Wir standen und blickten hilflos um uns, nirgends fand sich ein

ラン

Platz. Nur Nadja Bereskina war gleich untergekommen. Jetzt verstand ich ihre geflüsterte Mahnung: für eine Prostituierte rückte man sofort zu­sammen, aber Politische" waren nicht begehrt. Nach langem Herum­fragen krochen wir in irgendeine Ecke der obersten Etage. Wenn man sich aufrecht hinsetzte, stieß der Kopf gegen die Decke. ,, Hier werden wir die ersten Kleiderläuse fangen", stellte Stefanie Brun sachverständig fest. Hoffentlich benimmt sich der neben dir halbwegs anständig. Der scheint bis zum Rand voll zu sein. Woher die wohl Wodka bekommen?" ,, Sicher haben sie den Soldaten bestochen." ,, Komm Gretuschka, nur nicht unterkriegen lassen, wir rauchen eine Machorka." Und mit zittern­den Händen drehte sie eine für mich und eine für sich. Ich mußte diese Kunst erst erlernen.

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Vom Gang her rief einer: Wo ist die Deutsche?" Ich rutschte nach vorn. Unten stand Litten, einer der beiden deutschen Lehrer., Seid ihr untergekommen?", Ja, so halbwegs. Willst du zu uns heraufklettern? Hocken kann hier noch einer."

Zusammengekauert saßen wir auf den Brettern, und Litten erzählte von seinem Schicksal und dem Polarlager Kolyma . Er und Gresetzki hatten als Emigranten in der Sowjetunion gelebt. Sie waren von Beruf Lehrer und unterrichteten an der Karl- Liebknecht- Schule" in Moskau . 1936 wurden beide von der NKWD verhaftet und des Trotzkismus an­geklagt. Als Belastungsmaterial und Beweise ihrer trotzkistischen Tätig­keit legte ihnen der Untersuchungsrichter einige Verlagsprospekte vor, die den beiden Lehrern von deutschen Emigrantenverlagen aus der Schweiz , aus Holland und der Tschechoslowakei zugeschickt worden waren. Da in diesen Verlagen auch Bücher erschienen, die in Rußland als trotzkistisch verboten waren, galten die Prospekte als trotzkistisches Material und deren Besitzer als Trotzkisten.

Beide wurden zu fünf Jahren Konzentrationslager verurteilt und nach Kolyma in Nord- Sibirien transportiert. Ich hörte das erstemal vom Leben im Lager, von der Arbeit in den Goldgruben Kolymas, der Polar­nacht, von Skorbut und dem langsamen Eingehen der Häftlinge an Herz­schwäche. ,, Das gefährlichste ist, wenn man sich im Bergwerk irgendeine Verletzung zuzieht und liegen muß. Da schwellen die Beine an, als habe man Wassersucht . Kolyma liegt nämlich auf einem Hochplateau, ein paar hundert Meter über dem Meeresspiegel und das bei der dünnen Polar­luft; da macht das Herz nicht mehr mit. Außer der Goldgrube haben sie dort noch eine agrarische Versuchsstation. Da arbeiten hauptsächlich die Frauen. Und 400 dort geborene Kinder gibt es in Kolyma , die ver­hältnismäßig gesund sind. Die schönste Zeit dort oben ist im kurzen Sommer die Heuernte. Da müssen alle mithelfen. Ja, und da werden eben die Ehen geschlossen und neue Kinder gezeugt..."

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