Männer in Untersuchungshaft nicht ihren verhafteten Verwandten be­gegnet seien. Nur Grete Sonntag erfuhr, daß ihr Mann vor kurzem ebenfalls zu fünf Jahren Konzentrationslager verurteilt worden war, aber schon auf Transport gegangen sei. An einem Güterbahnhof wurden wir ausgeladen. Wir mußten zu fünfen antreten. Vorn die Frauen und hinten die Männer. Soldaten mit Gewehren und aufgepflanztem Bajonett liefen aufgeregt um uns herum. Die Kusine Jakirs erbrach sich vor Auf­regung. Es war ein feuchter, nebliger Abend. Als wir so standen, sah ich eine Straße hinunter, die zwischen Bretterzäunen hinführte, und dort gingen zwei Menschen Arm in Arm durch den Abend. Mit ,, Dawaj, dawaj!" trieb man uns über die Schienen, und plötzlich ertönte ein Kom­mando: ,, Niederhocken!" Ich verstand nicht, mir war das Wort unbekannt, und erst als die anderen sich in den Schmutz setzten, tat ich das gleiche. Was soll das be­Neben mir kauerte Nadja Bereskina und kicherte: deuten?"- ,, Das weiß ich auch nicht. Aber sicher müssen sie uns vor irgend jemandem verstecken", war Nadjas Erklärung.

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Dann ging es weiter. Wir näherten uns einem feststehenden Eisen­bahnwaggon ohne Räder, dem sogenannten Peresylny- Waggon". Bevor wir noch hineingingen, flüsterte mir Nadja zu: Du darfst da drinnen nicht sagen, daß du eine Politische bist, besser, Prostitutka' oder , Rastrat( Unterschlagung)".

Ich kam aber nicht mehr zum Fragen, wozu das gut sein sollte. Man schob uns durch die Waggontür in einen spärlich erleuchteten Raum, der der Länge nach von einem Gitter durchschnitten wurde, das bis zur Decke reichte. Es stank nach Petroleum , Tabak und schwitzenden Menschen. Stimmengewirr und Rufe empfingen unseren Transport. Und wie in einem Tierkäfig lagen hinter Gittern in zwei Etagen Menschen, meist auf dem Bauche, das Gesicht dem Gitter zugewandt. Durch eine Schiebetür zwängte sich einer nach dem anderen mit seinem Bündel in den schmalen Gang zwischen Gitter und Kojen. Ich sah nichts als kahlgeschorene Männerköpfe und nackte Oberkörper. Von allen Seiten rief man: ,, Wie­viel Jahre?" Weshalb?" ,, Kommt ihr aus Butirki?"

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Eine helle, durchdringende Kinderstimme übertönte den allgemeinen Lärm. Ich lehnte mich gegen das Gitter, um besser sehen zu können. Sollte das wirklich ein Kind gewesen sein? Da entdeckte ich zwischen all den Männerköpfen ein verschmitzt lachendes Kindergesicht. Aber wie alt bist du denn?" ,, Dreizehn Jahre, Tante." ,, Und weshalb?" ,, Wegen Diebstahl", kam es stolz zurück.

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Das war das erste gefangene Kind, das ich in meinem Leben sah. Aber für den Jungen schien das Verhaftetsein gar keine Schrecken zu haben. Der war unter seinesgleichen und wußte, wie man sich in einem solchen Fall zu benehmen hat.

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