Unschlicht hinaus. Ich wußte nur zu gut, um zehn Uhr abends aufgerufen werden, bedeutete zum Urteil gehen.

Draußen auf dem Flur standen sechs andere Frauen mit Bündeln, unter ihnen Grete Sonntag. Wir mußten paarweise antreten, und schweigend ging es durch das nächtliche Gefängnis. Und im Takt des Vierkantschlüssels und meines pochenden Herzens sang es mir immerzu in den Ohren: ,, Frisch auf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd.:."

Man schloß eine Zelle auf. Wir saßen auf einer Bank, ohne uns zu kennen, ohne uns auch nur zu sehen; neben jeder lag ein Bündel, jede starrte auf die Tür. Wer wird der erste sein? Die Hände waren erstarrt, und in den Ohren sang und sang es ohne Ende...

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,, Stefanie Brun!" Sie erhob sich ganz langsam, hielt sich beim Hin­ausgehen an der Wand fest. Ich sah ihre kleine, geäderte, gelbe Hand und die merkwürdigen Beine, die unten genau so dick waren wie an den Waden. Die Tür klappte hinter ihr zu. Eine wimmerte leise. Nach kaum zwei Minuten kam sie zurück und sagte mit tiefer, zerbrochener Stimme: ,, Acht Jahre." Der nächste Name: Margarita Genrichowna Buber­Nejman." Gleich neben der Zelle führte man mich in ein großes Zimmer, mit einem über Eck stehenden, rotverhangenen Tisch, an den Wänden große Bilder von Stalin und Beria . Hinter dem Schreibtisch saß ein frischrasierter, rotwangiger NKWD - Offizier in nagelneuer Uniform mit hellbraunen Schulterriemen. Er überreichte mir mit den Worten: ,, Können Sie russisch lesen?" einen Zettel, auf dem in Schreibmaschinenschrift stand: Margarita G. Buber- Nejman als sozialgefährliches Element zu fünf Jahren Besserungs- Arbeitslager verurteilt..." Er hielt mir einen Bleistift hin, mit dem ich wohl unterschreiben sollte. Ich verstand nicht recht, was er sagte: ,, Unterschreiben soll ich das? Geben Sie mir Papier, ich will gegen dieses Urteil protestieren! Ich bin unschuldig. Ich verlange ein Gerichtsverfahren!" Papier und Tinte erhalten Sie, sowie Sie in Ihrer Zelle sind." Ein Soldat packte mich am Arm. Dann saß ich auf der Bank neben Stefanie Brun. Ein nächster Name wurde gerufen. Eine nach der anderen kehrte zurück. Grete Sonntag mit fünf Jahren, Nadja Bereskina mit fünf Jahren, die Kusine des Marschalls Jakir mit zehn Jahren, die Schneiderin Rebekka Sagorje mit acht Jahren, die achtzehn­jährige Tochter eines Offiziers der Roten Armee mit fünf Jahren, eine Russin, langjährige Mitarbeiterin der Komintern , mit zehn Jahren. Keine weinte, keine schrie verzweifelt, keine sprach ein Wort. Die Urteile wurden durch die ,, Besondere Kommission" gefällt.

Dann führte man uns acht Frauen vorbei an der modrig riechenden Badestube, wo ein Heimchen monoton zirpte, bis zu einer kleinen Tür, die sich auf einen winkligen Hof öffnete. Eine grelle elektrische Lampe beleuchtete den gotischen Bogen einer altertümlichen Pforte. Man brachte uns Verurteilte in das Erdgeschoß des ,, Pugatschew- Turmes", jenes

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