warm wurde und sie versuchte, auf den Gefängnishof zu gehen, fiel sie sofort in Ohnmacht.
Gertrud Tiefenau wurde fast von allen Häftlingen gehaßt. Man nannte sie„deutsche Faschistin‘“, denn sie begnügte sich nicht mit Ein- gaben oder Bitten an die Gefängnisverwaltung, sondern ergriff jede Ge- legenheit, um gegen die ihr widerfahrenen Ungeheuerlichkeiten zu protestieren. Jeden Morgen verlangte sie den Korpusnoj zu sprechen. Sie forderte von ihm nichts anderes als ihre Kleider und die Wäsche, die sie in ihrem Zimmer bei der Verhaftung zurückgelassen hatte. Durch ihre ständigen Proteste war sie natürlich gefängnisbekannt und stand bereits auf der schwarzen Liste. Bei solchen Auseinandersegungen mit der Ge- fängnisbehörde geriet sie gewöhnlich in heftige Erregung und schrie die Beamten an:„Ihr seid keinen Deut besser als die deutschen Faschisten!° Nein, schlimmer seid ihr, weil ihr behauptet, Sozialisten zu sein!“ Diese Auftritte trugen ihr immer wieder Dunkelarrest ein, und die Gefängnis- verwaltung dachte nicht daran, ihr auch nur ein Kleidungsstück zu geben. Da sie auf der schwarzen Liste stand, kam sie automatisch über die Mai- feiertage und im November zur Feier der Oktoberrevolution in Dunkel- arrest. Sie erzählte mir, daß man sie einmal viele Stunden nackt in eine Zelle gesperrt hatte. Trotz der Erfolglosigkeit ihres Kampfes war sie nicht klein zu kriegen. Leider hatte sie durch ihre Erregtheit auch ständige Zusammenstöße mit den Mithäftlingen und war oft im Unrecht.
Sie war verhaftet worden, weil sie in ihrem Betrieb— sie arbeitete als Metallarbeiterin— bei einer Unterhaltung mit russischen Arbeitern geäußert hatte:„Der einzige Nazi mit Verstand ist Goebbels .“ Die An- klage lautete auf„konterrevolutionäre Asitation“.
Ich vermute, daß sie sich später vom Gefängnis aus an die Deutsche Botschaft in Moskau gewandt hat, denn sie wurde nach über zwei Jahren Untersuchungshaft direkt vom Gefängnis aus nach Deutschland ausge- wiesen und dort nicht verhaftet. Das erfuhr ich erst 1940 in Berlin , als mich meine Mutter im Gefängnis besuchte. Gertrud Tiefenau hatte ihr Versprechen gehalten, das wir uns im Herbst 1938 in der Zelle gegeben hatten: falls eine in die Freiheit kommen sollte, der Mutter eine Nach- richt zu überbringen.
Mein Aufenthalt in Zelle 23 sollte nur kurze Zeit dauern. Nach dem legten Verhör machte ich mir allerhand Hoffnungen. Alle Gedanken an Sibirien wurden weit weggeschoben. Da, eines Abends um zehn Uhr, rief man durch die Klappe:„Stefanie Brun und Margarita Genrichowna Buber-Nejman fertigmachen mit Sachen!“
Was kommt jet? Gelähmt und unfähig, selbst den Sack zu packen, schüttelte ich viele Hände zum Abschied, sah Gertrud Tiefenau das erste- mal in Tränen, blickte in viele teilnahmsvolle, traurige Gesichter und ging mit Stefanie Brun, einer Russin, der Schwester des Volkskommissars
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