,, Von den Mauern Widerklang.
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Ach, im Herzen fragt es bang
Ist es ihre Stimme?
Und vergeblich sucht mein Blick. Klinget mir ein Ton zurück, Ist's nur meine Stimme.
An der Mauern höhern Rand Sind die Blicke hingebannt, Doch ich seh' nur Sterne.
In der hohen Himmelssee
Ich die Sterne küssen seh'.
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Wären's uns're Sterne..."
Wir saßen beieinander und flüsterten unsere Lieblingsgedichte und summten uns die Volkslieder von früher ins Ohr. ,, Habt ihr eigentlich schon Säcke genäht? Wollt ihr denn gar kein Brot trocknen?" mahnte die russische Nachbarschaft und schüttelte die Köpfe über unseren Leichtsinn und Unverstand. Immer und immer wieder sprach man von Sibirien .
*
Als schon der erste Schnee gefallen war, wurde die Zelle 31 aufgelöst. Eines Nachts ertönte der Ruf: ,, Alles fertigmachen mit Sachen!" Wir vermuteten eine Durchsuchung, und aller verbotene Besitz flog in die Kübel. Aber es war viel schlimmer, wir mußten uns von allen liebgewordenen Freunden und Bekannten trennen. Solche Abschiede sind herzzerreißend. Da wird viel mehr geweint als dann später beim Urteil. Die kleine Rosl Josephsberg stand in quergestreiften, rot- weißen Schlüpfern und vergaß vor Schmerz, sich anzuziehen. Freundinnen lagen sich in den Armen. Man wußte, daß man sich im Leben nie wiedersehen wird und jeder ein entsetzliches Schicksal zu erwarten hat. Wie leicht doch alles wird, wenn ein mitfühlender Mensch bei einem ist.
Auch in Zelle 23, meiner neuen Unterkunft, waren über hundert Frauen. Aber dort herrschte ein anderer Ton, da gab es keine Tasso, die schlichtend und vermittelnd eingriff. In dieser Zelle begegnete ich der Deutschen Gertrud Tiefenau. Sie saẞ bereits anderthalb Jahre in Untersuchungshaft. Im Sommer 1937 hatte sie die NKWD verhaftet, so wie sie ging und stand, in Söckchen, mit nackten Beinen, dünner Bluse und leichtem Rock, ohne Mantel, ohne Strümpfe, ohne Decke verbrachte sie bereits anderthalb Jahre in Butirki. Manchmal fand sich eine mitleidige Seele, die sie für die Nacht mit unter ihren Mantel oder ihre Decke nahm, sonst aber lag sie auf bloßen Brettern wie ein Hund. In den kalten Jahreszeiten konnte sie niemals den Spaziergang mitmachen, und als es
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