Gespräche hatte ich natürlich nie gehört, und Freunde waren nur solche gekommen, die sich nicht mehr in Sowjetrußland befanden. Der Unter­suchungsrichter machte keinen Versuch, irgendwelche Aussagen zu er­pressen. Ich las jede Seite des Protokolls sorgfältig durch. Es war in deutscher Sprache. Am Schluß forderte er mich auf: ,, Unterschreiben Sie!" Ich muß ehrlich gestehen, ich hatte das Gefühl, daß man es eigent­lich ruhig tun könnte. Es sah alles so ordentlich und einwandfrei aus. Wenn ich nicht unterschreibe, wird er mich jahrelang sitzen lassen in diesem entsetzlichen Untersuchungsgefängnis. Aber da fielen mir die Warnungen Tassos ein: ,, Unterschreibe nicht, man wird das Protokoll fälschen!" Mit Flüchen schickte mich der Untersuchungsrichter zurück in die Zelle.

Vierzehn Tage danach holte man mich wieder in der Nacht. Diesmal kam ich in ein anderes Zimmer, zu einem anderen Untersuchungsrichter. Der sprach russisch. Er überreichte mir einen Zettel, auf dem stand: ,, Kontschanije sljetstwo"( Beendigung der Untersuchung). Die Unter­suchung hat ergeben, daß Margarita Genrichowna Buber- Nejman der konterrevolutionären Organisation und Agitation gegen den Sowjetstaat für schuldig befunden wurde." Ich wollte meinen Augen nicht trauen, las es immer noch einmal. Vielleicht war es ein Miẞverständnis? Ich ließ mir vom Untersuchungsrichter die Bedeutung der Worte erklären. Es stimmte genau. Das also war das Ende. Ich fragte: ,, Darf ich in deutscher Sprache einige Sätze auf die Rückseite dieses Zettels schreiben?" Er erlaubte es mir. Da schrieb ich: Ich protestiere gegen die Methode der Unter­suchung, die ohne jegliche Beweisführung mich der konterrevolutionären Organisation und Agitation gegen den Sowjetstaat für schuldig befindet. Ich verlange eine neuerliche Untersuchung."

Nach drei Tagen, eine für russische Verhältnisse ganz ungewöhnlich kurze Frist, holte man mich wieder zum Verhör, brachte mich in das Zimmer meines wolgadeutschen Untersuchungsrichters, in dem er und ein ungefähr sechzig Jahre alter Mann mit weißem Haar und rosigem Ge­sicht, scheinbar auch ein Untersuchungsrichter, anwesend waren. Der Alte forderte mich freundlich auf, Platz zu nehmen. Neben dem Schreibtisch saẞ in unterwürfiger Haltung der Wolgadeutsche. Der alte Weißhaarige wandte sich an mich: ,, Ist Ihnen im Laufe der Untersuchung ein Unrecht geschehen? Weshalb protestieren Sie gegen die Methode der Unter­suchung?" Aus der Art, wie die Frage gestellt wurde, entnahm ich, daß er glaubte, ich beschwere mich über irgendwelche Mißhandlungen durch den Untersuchungsrichter.

,, Nein, so habe ich das nicht gemeint. Mein Protest richtet sich gegen das Verfahren, das mich der konterrevolutionären Organisation und Agitation gegen den Sowjetstaat für schuldig befindet, ohne irgendwelche

53