Spaziergangsentzug. Die Folge davon war, daß Katja Semjonowa und ihre Clique eine Hetze gegen Tasso entfesselten, sie als ,, undiszipliniert" kritisierten und ihr vorwarfen, sie ,, vernachlässige ihre Starosta- Pflichten im Interesse einer Ausländerin".

Grete Sonntag wurde zum Verhör geholt und kehrte erst nach Stunden ganz verzweifelt zurück. Am nächsten Tag saß sie auf den Brettern und hatte sogar vergessen, sich die Haare zu kämmen. Ich sah, wie sich ihr Mund ununterbrochen bewegte. Sie sprach mit sich selbst. Ich krabbelte zu ihr hinüber und sie begann zu erzählen: ,, Gestern haben sie mich dem Arbeiter aus unserer Fabrik gegenübergestellt. Stelle dir nur vor, dieses Schwein hat vor dem Untersuchungsrichter wiederholt, was ich gesagt habe. Die ganze Zeit hatte ich doch bestritten, einen solchen Ausspruch getan zu haben. Wenn ich doch sterben könnte! Warum mußte gerade mir das passieren?"

In unserer Zelle saßen eine ganze Reihe Offiziersfrauen. Wir ver­abredeten mit einigen, deren Verhöre bereits abgeschlossen waren und die bald zum Urteil gehen würden, daß sie versuchen sollten, uns ein Zeichen zu geben, wieviel Jahre sie bekommen hätten. Unsere Zelle lag zu ebener Erde und durch einen Spalt im Kasten, der vor dem Fenster hing, konnte man einige Stufen der Treppe erspähen, die auf den Ge­fängnishof führte. Wir besprachen, daß eine aufpassen würde, wenn man die Verurteilten zum Spaziergang führte und sie sollten dann soviel Finger auf dem Rücken spreizen, wie sie Jahre erhalten hätten. Die Ver­abredung gelang, wir sahen gespreizte fünf Finger. Die Freude unter den Russen war groß. Nur fünf Jahre! Das ist ja großartig! Da merkt man schon die neue Ära des Volkskommissars Beria . Unter Jeshow gab es nie unter zehn Jahren!"

Eines Tages kam ein Zugang, der die ganze Zelle erschütterte. Eine Frau in Lagerkleidung, in dunkelgrauer gesteppter Wattejacke, einer ebensolchen runden Mütze und in Schaftstiefeln. Sie hatte ein blasses Madonnengesicht, schlichtes, glattes Haar, das sie in einem Knoten trug. Man flüsterte von einer zur anderen: Die kommt aus Sibirien ." Es dauerte eine ganze Weile, bis sie zu sprechen begann. Das erste, was sie verlangte, war ein Buch. Nach ein paar Tagen wußten wir, wie es um sie stand. Sie war 32 Jahre alt, von Beruf Lehrerin, eine Popen­tochter, die vor neun Jahren wegen konterrevolutionärer Tätigkeit" verhaftet und zu zehn Jahren verurteilt worden war. Sie kam aus dem Lager Kolyma , das in Nord- Sibirien im Polarkreis liegt. Ein Jahr ihrer Strafe wurde ihr wegen guter Führung und vorbildlicher Arbeit ge­schenkt. Sie konnte sich ein Paar Schaftstiefel kaufen. In ihrem Ent­lassungsschein stand, daß sie sich in ihren Heimatort begeben müsse. Sie fuhr aber direkt nach Moskau und ging, so wie sie aus dem Kon­zentrationslager kam, in Wattejacke, runder Ohrenklappenmütze und

4 Buber: Gefangene.

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