Geschichte immer von neuem. Bald wollte sie keiner mehr anhören. Man lächelte mitleidig und tippte sich an den Kopf. Einmal erzählte uns Franziska, daß sie schneidern könne, und da kamen wir auf einen Ein­fall. In der Gefängniskantine konnte man Männerunterhemden in ver­schiedenen Farben kaufen. Wir Deutschen trugen Poloblusen, die den Russinnen besonders gut gefielen. Franziska meinte, man könne aus zwei Männerhemden eine solche Bluse herstellen. Einige legten Geld zusammen, kauften vier Hemdchen, und Franziska begann, geschützt durch die Rücken der Auftraggeberinnen, ihre Arbeit. Der Heilerfolg war großartig! Immer seltener sprach sie über die geheimnisvolle Zelle", ihre Gedanken waren vom Blusenmachen völlig in Anspruch ge­nommen. Nach ganz kurzer Zeit ging Franziska, ohne ein Verhör gehabt zu haben, zusammen mit mehreren anderen Frauen abends gegen zehn Uhr aus der Zelle. Die bekommen ihr Urteil", meinten die Sach­verständigen.

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Nach über einem Monat Aufenthalt in Butirki kannte ich immer noch nicht den Grund meiner Verhaftung. Außer zu Fingerabdruck und Gefängnisfotograf war ich nicht aus der Zelle gerufen worden. Jeden Tag bereicherte ich meine Kenntnisse über die Art der Verhöre, über Anklagen und die darauf zu erwartenden Urteile. Alle guten Bekannten in der Zelle klärten mich auf: Mit Spionage' mußt du mindestens rechnen, vielleicht auch, konterrevolutionäre Organisation'. Da darfst du gar keinen Schreck kriegen, das bekommen sie alle. Du mußẞt vor allem beim Untersuchungsrichter fest bleiben, sagen, daß du von nichts etwas weißt, daß du niemals politisch tätig warst, sondern dein ganzes Leben lang den Haushalt besorgt und gekocht hast. Und das Wichtigste: unter­schreibe nie ein Protokoll. Wenn dich der Untersuchungsrichter auch tagelang stehen läßt. Es ist immer noch besser, lange in Untersuchungs­haft zu sitzen, als nach Sibirien zu kommen." So nach und nach nahm auch der Schrecken vor den Nächten ab. Ich lernte auf den Brettern zu schlafen, bekam auf beiden Seiten der Hüften abgeriebene Stellen, wie ein Gaul, dem die Zugriemen das Fell abgescheuert haben, und durch das ständige Hocken auf den Brettern schwanden die Beinmuskeln dahin.

Unter den Frauen gab es viele, die das Fehlen eines Spiegels nicht verwinden konnten. Da erfanden sie eine Abhilfe. Der Boden des Aluminiumbechers wurde mit etwas abgekratztem Kalk auf einem Tuch solange gerieben, bis er blinkte und blitzte und man, zwar leicht ver­zerrt, sein Häftlingsgesicht drin sehen konnte. Überhaupt hatten manche Frauen merkwürdige Sorgen. Eine Russin, so eine unverdrossen muntere Offiziersfrau, erwartete, zum Untersuchungsrichter gerufen zu werden. Da klagte sie mir: Wie unangenehm, daß ich mir meine Beine vorher nicht rasieren kann. Dann würde ich mich viel sicherer fühlen!" Vielleicht

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