nishöfe nicht ausreichten, um allen Häftlingen einen zwanzig- Minuten­Spaziergang am Tag zu ermöglichen. So wurde die ganze Nacht hindurch auf dem Hof ,, spazierengegangen".

Nach und nach lernte ich die russischen Mithäftlinge kennen. Was waren das für merkwürdige Politische"! Mit Ausnahme von Tasso habe ich während der ganzen Zeit in Butirki von keinem russischen Mitge­fangenen ein Wort der Kritik an der Sowjetregierung gehört. Wenn sie nur geschwiegen hätten aus Angst vor Denunziation, wäre es noch be­greiflich gewesen, aber da gab es einige Cliquen in unserer Zelle, die wetteiferten in Beteuerungen ihrer Ergebenheit und Parteitreue. Ihre Wortführerin war Katja Semjonowa. Sie stellte nicht nur einen Häft­lingstyp dar, sondern ist für die heutige russische Generation überhaupt kennzeichnend. Katja war eine untersetzte Frau von ungefähr dreißig Jahren, mit kurzgeschnittenen, glatten Haaren, die sie mit einem Kamm straff nach hinten gesteckt trug. In der Zelle ging sie mit Männertrikot und schwarzer, kurzer Turnhose gekleidet. Ihre Bewegungen waren be­tont männlich. Sie hatte eine Art, an ihrer Turnhose herumzunesteln, als schnalle sie sich den Lederriemen fester, und beim Spaziergang ging sie gewöhnlich als erste im Kreis herum mit herausgedrückter Brust und einem Gesicht, als schreite sie in einer Demonstration. Mit dieser Katja kam ich einmal ins Gespräch. Da war ich schon ein ,, alter" Unter­suchungshäftling. Von seiten der Parteiaristokratie wurde mir heftiges Mißtrauen entgegengebracht. Erstens weil ich eine Ausländerin war, und dann hatte man ihnen wohl auch einige meiner kritischen Äußerungen hinterbracht. Ich fragte Katja: Warum wurdest du eigent­lich verhaftet?" ,, Ich bin das Opfer einer trotzkistischen Verleumdung. Aber diesen Verbrechern werde ich es heimzahlen! Die sollen noch an mich denken!" ereiferte sie sich. ,, Da bist du also ebenso unschuldig wie wir alle hier?" setzte ich das Gespräch fort. Wie kann man so etwas sagen! Ich kenne nur meine Angelegenheit und die einiger Freunde! Du mußt bedenken, daß ich aus einer Familie stamme, in der es neun Stachanow- Arbeiter gibt, und in meinem Betrieb war ich bekannt als parteilose Bolschewikin!"- ,, Aber Katja, glaubst du nicht, daß alle hundertzehn Frauen hier in der Zelle genau so unschuldig sind wie du? Du hast doch auch mit vielen über ihre Anklage gesprochen, hast du nicht den Eindruck, daß sie zu Unrecht verhaftet sind?"

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Mit fanatischem Gesicht zischte sie mich an: ,, Man verhaftet noch nicht genug! Wir müssen uns vor den Verrätern schützen. Und wenn es auch ein paar Unschuldige trifft! Wo gehobelt wird, fallen Späne!"

Katja Semjonowa war auch eine von denen, die das Wort Disziplin ständig im Munde führten. Diszipliniert hat der Häftling bis zum Schreibtag zu warten, der alle paar Wochen stattfindet und wo es Papier und Tinte gibt, um Gesuche und Beschwerden an Gefängnisverwaltung

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