daß Damenschuhe zwischen einhundert und zweihundertfünfzig Rubel kosteten.

Neben unserem Raum lag das Zimmer der Familie eines russischen Metallarbeiters, der früher einmal als Arbeiter in der Komintern tätig gewesen war. Im Jahre 1917 hatte er in den Reihen der Revolutionäre gekämpft. Jetzt arbeitete er in einer Metallfabrik. Nach und nach lernten wir die Familie kennen. Wir kochten gemeinsam mit unseren Kyrasinkas( Petroleumkocher) auf einem Tisch im Korridor. Da sahen wir uns gegenseitig in die Töpfe und wußten bald, woran wir waren. Die Frau erfuhr von unserer Not, daß wir Hinterbliebene von Verhafteten seien und vom Verkauf unserer Sachen lebten. ,, Wo verkaufen Sie denn Ihr Zeug?" fragte sie uns. ,, Natürlich auf dem Freien Markt und in den Kommissionsgeschäften."- ,, Da wird man Sie sicher schön übers Ohr hauen mit Ihrem schlechten Russisch. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen helfen. Ich gehe sowieso fast jeden Monat in der letzten Woche, wenn das Geld nicht mehr langt, ein paar Sachen versetzen oder verkaufen." So kam es, daß wir gemeinsam loszogen und sie uns half, wo sie nur konnte. Eine Russin, eine fremde Frau, wagte es, mit uns über die Straße zu gehen, gab sich Mühe, daß wir nicht hungern brauchten, während die meisten unserer eigenen Genossen nicht den Mut auf­brachten, uns auf der Straße zu grüßen. So hatte man sie durch das Kominternregime mit seinen Methoden der Wachsamkeit" und der ,, Erklärungen" demoralisiert.

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Aber wie kam es eigentlich, daß die Frau eines russischen Metall­arbeiters so knapp mit Geld war? Der Mann verdiente 300 Rubel im Monat. Sie hatten vier Kinder: der Älteste in der Roten Armee, der Zweite in der Lehre, ein fünfzehnjähriges Mädchen besuchte die höhere Schule und dann gab es noch einen kleinen Achtjährigen, der gerade in die Schule gekommen war. 300 Rubel langten nicht hin und nicht her bei einer so zahlreichen Familie. Gerade in dieser Zeit verließ die Tochter die höhere Schule und ging in eine Fabrik arbeiten. ,, Ich will mir auch einmal ein neues Kleid kaufen wie die anderen Mädchen", war ihre Begründung.

Dann erfuhr ich, daß die Familie des Metallarbeiters eigentlich längst ihr Zimmer hätte räumen müssen, weil der Mann nicht mehr bei der Komintern arbeitete, und die Frau erzählte mir glücklich: ,, Gott sei Dank, daß wir einen Sohn in der Roten Armee haben, denn da dürfen sie uns nach dem Gesetz nicht exmittieren. Wenn der eine fertig gedient hat, kommt der zweite dran. Da sind wir noch für ein paar Jahre ge­sichert."

Als ich das Zimmer unserer Nachbarn betrat, bemerkte ich erstaunt in der Ecke eine Ikone. Ein revolutionärer Arbeiter, der sich einen Heiligenschrein aufbaut? Und das in einem Gebäude der Komintern?

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