Jeder Raum dieses alten Hauses barg eine andere Tragödie. Mütter, Kinder, alte Frauen verbrachten ihre Tage mit der Suche nach den An­gehörigen von einem Gefängnis zum anderen oder dem Verkauf der letzten Habseligkeiten, denn es gab für ,, Hinterbliebene" weder Arbeit noch irgendeine Unterstützung. Nachts aber warteten sie auf ihre eigene Verhaftung. Durch Wochen und Monate schon stand der Koffer bereit, der sie nach Sibirien begleiten sollte.

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Von unserem Fenster aus konnten wir in den Treppenflur des ,, Lux" blicken. Wenn nach Mitternacht die elektrische Beleuchtung wieder ein­geschaltet wurde, wußte man: NKWD ist im Hause! Und mit klopfendem. Herzen lauschten wir angespannt auf das Geräusch der herannahenden Stiefel. Wer wird der nächste sein? Keiner fragte sich mehr, warum wir verhaftet werden sollten, oder weshalb hat man eigentlich unsere Männer geholt? Nur ganz wenige waren fähig, zu erfassen, was über uns herein­gebrochen war.

Das Tagesgespräch der ,, Hinterbliebenen" und wohl noch sehr vieler anderer Menschen im großen Rußland war zu jener Zeit: Hast du ge­hört, wer heute Nacht verhaftet wurde? Weißt du, daß sie den Genossen X. geholt haben?" In allen Einzelheiten erzählte man, wie sich ein polnischer Genosse mit dem Revolver in der Hand bei seiner Verhaftung verteidigt und auf die NKWD - Beamten geschossen hatte. Erschütternde Szenen spielten sich ab, wenn man Mütter von ihren Kindern riß. Die zurückgebliebenen Kinder kamen dann in Kinderheime, wo man sich wegen der Überfüllung nicht mehr um die Kinder kümmern konnte. Eine Frau fand ihre Nichte, deren Eltern verhaftet worden waren, nach langem Suchen in einem solchen Heim und erwirkte ihre Herausgabe. Die Siebenjährige hatte einen schweren geistigen Defekt erlitten. Man erzählte, daß die größeren Kinder in diesen Heimen sich mit Geld und Schmucksachen alle erreichbaren Genüsse erhandelten. Die Wertgegen­stände hatten sie von mitleidigen Hausbewohnern zugesteckt bekommen, als man wußte, daß, nach der Verhaftung der Eltern, die NKWD die Kinder abholen würde.

Einmal belauschte ich Kinder der Hinterbliebenen auf dem Korridor des Nepflügels: ,, Ist dein Papa auch verhaftet?"- ,, Nein, meiner ist auf Urlaub in den Kaukasus gefahren." Da mischte sich die 11jährige Tochter des verhafteten Genossen Sch. in die Unterhaltung: ,, So, in den Kaukasus ? Und warum zahlt deine Mama im Gefängnis Geld ein? Ein schöner Kaukasus ist das!"

Damals machte ein Witz in Moskau die Runde: Zwei Männer treffen sich auf der Straße( es war um die Zeit des spanischen Bürgerkrieges). ,, Haben Sie schon gehört, daß Teruel genommen ist?" ,, Was? Und

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