Ich wandte mich trotzdem an den damaligen Judenältesten, Herrn Edelstein, und schilderte ihm die Sachlage. Über die vollzogene Tatsache, daß sich eine evangelische Gemeinde gebildet hatte, war er erstaunt, aber durchaus verständnisvoll. Der liebe Gott sei ja schließlich derselbe, und ihm, Edelstein, sei es gleichgültig, in welcher Weise man ihn verehre. Aber Räume, in denen jüdische Gottesdienste abgehalten würden, könn­ten nicht zur Verfügung gestellt werden, denn dort sei die Thora auf­gestellt, und das sei unverträglich mit christlichem Gottesdienst, ge­schweige denn mit der Anbringung eines Kreuzes. Er wolle indessen sehen, ob nicht doch irgendein Raum zu schaffen sei; vorläufig möge ich versuchen, einen Dachboden in einer Kaserne zu erhalten. Das gelang, und wir hielten den Gottesdienst wieder auf einem Dachboden ab, zu dem viele steile Treppen führten. Auch dieser Raum erwies sich als unzulänglich-die Zahl der Besucher stieg ständig.

Inzwischen war der Dachboden, auf dem wir begonnen hatten, von der Abteilung für ,, Freizeit" für Varieté und Vorträge hergerichtet, eine Bühne und Holzbude aufgestellt und elektrische Beleuchtung angebracht worden. Nach allerlei Schwierigkeiten wurde dieser Raum zur Abhal­tung evangelischer später auch katholischer Gottesdienste durch Schreiben vom 18. Oktober 1942 zur Verfügung gestellt. Das war die erste, halbwegs offizielle, Anerkennung der Gemeinde.

-

-

Ich bat nun einige Herren und Damen, mich bei den mannigfachen Aufgaben und Fragen, die dauernd entstanden, zu unterstützen. Vor allem gebührt Dank Dr. O. Stargardt Landgerichtsrat aus Berlin und Mitglied der Provinzialsynode, den ich zum ,, Diakon" bestellte; er hat all die Jahre hindurch die Gemeinde in innigster Hingabe, mit mir zusammen, geleitet.

Wir schritten bald dazu, eine Liste der Gemeindeglieder herzustellen und eine Kartei einzurichten.

-

Bei der Aufnahme der Personalien stellte sich heraus, daß eine große Anzahl von Personen sich erst als Erwachsene hatten taufen lassen, meist erst aus Anlaß der Ehe; durch Tod oder Scheidung getrennte Mischehen verhinderten schon 1942 nicht mehr die Evakuation. Ich unterließ es daraufhin grundsätzlich, den Zeitpunkt der Taufe festzulegen, um eine Differenzierung innerhalb der Gemeinde und nach außen hin zu ver­meiden. Denn die Stellungnahme der Juden, vor allem der gesetzes­treuen Juden und deren waren sehr viele-, war, wie ich bald er­fuhr, eine völlig verschiedene gegenüber denen, die schon von Kindheit an christlich erzogen waren, deren Eltern schon Christen gewesen waren, und denen, die erst später übergetreten waren. Gegenüber den ersteren war die Haltung im allgemeinen neutral und gipfelte höchstens in einer grundsätzlichen, gelegentlich auch miẞachtenden Ablehnung des Christen­tums, wie sie im Judentum weit verbreitet zu sein scheint. Ganz anders war die Haltung gegenüber denjenigen, die erst als Erwachsene überge­treten waren. Man betrachtete und verachtete sie als, Abtrünnige", als Renegaten und Verräter und bezeichnete sie als ,, Geschmockle". Die­

12