stellten aber unter uns nicht etwa eine besondere Gruppe dar, sondern sie wollten durchweg nichts als unsere Kameraden sein und hatten sich auch über fast sämtliche Stuben verteilt. Ebenso wie wir war jeder von ihnen eine wandelnde Geschichte, Nach dem Bibelwort,„daß der Mann Vater und Mutter verlassen und am Weibe hangen soll”, hatten sie es mit ihrem Zuhause noch erheblich schwerer als wir. Denn die Sorge, welche die Imis unter uns wegen ihrer jüdischen Väter oder Mütter, so- fern sie noch lebten, niemals verließ, hatten sie für ihre jüdischen Frauen,
Die Geschichte eines der ältesten von ihnen, des fast siebzigjährigen Kaufmanns Jantzen, ist bereits erzählt worden.
Noch schlimmer stand es mit dem unablässigen Träger des Reichs- sportabzeichens, unserem Kameraden Erleborg. Seine Frau saß seit Jahr und Tag im Untersuchungsgefängnis, weil ein nationalsozialistischer Nach- bar geglaubt hatte, an der Nähe einer Jüdin Anstoß nehmen zu müssen und die Frau, die aus wohlerwogenen Gründen möglichst jedem beschei- den aus dem Wege ging, deshalb wegen„volksfeindlichen Verhaltens“ polizeilich angezeigt hatte. Erleborg, der mit seiner Frau sonst in der ganzen Gegend, in der er wohnte, allgemein beliebt war, hatte, um seine Frau zu retten, unter eine von einem guten Bekannten aufgesetzte Er- klärung, daß Frau Erleborg ein bescheidener, pflichttreuer und nie- manden lästiger Mensch sei, zahlreiche Unterschriften gesammelt und das Schriftstück der Gestapo eingereicht, Mit diesem„Entlastungsdoku- ment” war er, abgesehen davon, daß er seinen mitunterzeichneten Freun- den und Bekannten hier einen sehr schlechten Dienst erwiesen hatte, erst recht in des Teufels Küche geraten. Die Gestapo sah dies harmlose Unternehmen eines um seine Frau besorgten Ehemannes, der nicht mehr ein und aus wußte, als„jüdische Propaganda’ an und setzte zunächst einmal die Frau endgültig fest. Sämtliche Freunde und Bekannten Erle- borgs, welche das„Leumundszeugnis” für seine Frau unterzeichnet hatten, wurden auf die Gestapo geladen und mußten dort, obwohl es sich zum Teil um recht bejahrte Leute handelte, wie eine wegen einer Unart nachsitzende Schulklasse drei Stunden lang einen Aufsatz über das Thema„Warum ich die Juden verachte und verabscheue‘ schreiben, Erleborg hatte sich trotz dieses schmerzlichen Erlebnisses, das ihm seine Lebensgefährtin genommen hatte, nicht nur sein Reichssportabzeichen, sondern auch seine Haltung als„echter deutscher Mann“, wie er es nannte, bewahrt. Ich habe nicht feststellen können, ob es zutraf, daß er, wie das allgemeine Gerücht bei uns wollte, früher einmal Abgeordneter in der bremischen Bürgerschaft gewesen war. Wenn das nicht den Tat- sachen entsprach, war es jedenfalls gut erfunden, Immer wenn er in einer unserer abendlichen Lagerzusammenkünfte seine sonore Stimme erhob und mit tiefem Brust- und Biedermannston begann:„Kame- raden!,,,” wurden alle heiter, wenn der Anlaß unseres Zusammenseins auch noch so ernst oder traurig war.
Die Geschichte eines zweiten„jüdisch Versippten“, unseres biederen
171


