VORSPUK
Die Erlebnisse, die meinen Schicksalsgenossen und mir das halbe Jahr vom Oktober 1944 bis April 1945 gebracht hat, haben eine Vorgeschichte von fast einem Dutzend Jahren,
Als ich an einem sonnigen Märzmorgen des Jahres 1933 aufwachte, wußte ich, daß ich kein richtiger Deutscher mehr war. Lastwagen, gefüllt mit braununiformierten SA.-Männern, fuhren durch die Straßen, Haken- kreuzfahnen wehten von allen Türmen der Stadt und vor allen„nicht- arischen” Geschäften, Büros und Wohnhäusern standen nationalsozialisti- sche Wachtposten mit einem Plakat, auf dem zu lesen war, daß das inter- nationale Judentum der Todfeind Deutschlands sei und ausgerottet werden müsse,
Zu den Menschen„nichtarischer Abstammung‘, die mit„revolutio- närer” Plötzlichkeit aus dem deutschen Volke mehr oder weniger aus- geschieden wurden, gehörten nicht nur die Juden, sondern alle Männer und Frauen, die auch nur einen Großvater oder eine Großmutter hatten, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hatten, Die Eltern meines Vaters, den ich niemals gekannt habe, weil er schon, als ich noch nicht 2 Jahre alt war, als preußischer Beamter— Senatspräsident an einem Oberlandesgericht— gestorben war, sind mosaischen Bekenntnisses ge- wesen, Mein Großvater väterlicherseits, der sein Leben lang als Magi- stratsmitglied in Breslau gewirkt hat, ist übrigens, was ich nur der Merk- würdigkeit halber erwähne, bereits im Jahre 1805 zu Glogau geboren, also zu einer Zeit, als der Staat Friedrichs des Großen noch aufrecht stand, Mein Schicksal, als es mich ereilte, war also gewissermaßen weit über ein Jahrhundert alt, Dies spielte aber den Gesetzen des Dritten Reiches gegenüber keine Rolle, ebensowenig wie die Tatsache, daß ich mütterlicherseits aus einer alten deutschen Familie stamme, die ihren Stammbaum bis auf Kaiser Rudolph II, zurückleitet und dem deutschen Volke einen vielgelesenen und auch noch heute besonders von der deut- schen Jugend geliebten Dichter geschenkt hat. Ohne Bedeutung war auch, daß mein Vater als hoher Beamter dem preußischen Staate sein ganzes Leben lang treu gedient hatte und in seiner Jugend den Deutsch -Franzö- sischen Krieg von 1870/71 als Reserveoffizier in einem schlesischen Reiterregiment mit Auszeichnung mitgekämpft hatte. Es war eben von einem Tage auf den anderen ein schwerwiegender Irrtum von mir ge- worden, mich stets für einen guten Deutschen gehalten zu haben. Auf Grund des sog,„Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ”
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