den Russen war. Obwohl er der eigentliche Arzt des Lagers war und manche Not, soweit es überhaupt in menschlichen Kräften stand, ge- lindert hat, konnte er Häftlinge nicht einmal für ein paar Tage krank schreiben, Dazu war nur der deutsche Arzt befugt, bei dessen flüchtigen und kurzen Visiten der Russenarzt, den der deutsche Landarzt, dem ersteren an fachlichem Können und Wissen sicherlich weit unterlegen, keineswegs als Kollegen behandelte und geradezu übersah, wie ein Laza- rettdiener stumm beiseite stand,

Der Sanitäter und ständige Gehilfe des Russenarztes war unser Stubengenosse, der ehemalige SA.-Brigadeführer, der wegen eines Herz- leidens für eine andere Arbeit nicht tauglich war. Er hatte in leitender kaufmännischer Position eine sehr gute Stellung gehabt und waralter Kämpfer, Als begeisterter Nationalsozialist war er während der Kampf- zeit in der SA , sehr schnell im Rang aufgerückt und wäre wohl über den Brigadeführer noch hinausgekommen, wenn ihn nicht dann sein Schicksal ereilt hätte, Kliemann, wie er hieß, hatte eines Tages zu seinem Schrecken entdeckt, daß einer seiner beiden Großväter ursprünglich Jude gewesen war, und zwar war er zu dieser Feststellung gelangt, als nach 1933 von den höhern SA.-Führern der sogenanntegroße Arier-Nachweis ge- liefert werden mußte, um den sich in der Kampfzeit niemand gekümmert hatte, da damals Abstammungsfragen, wenn die jüdische Herkunft nicht geradezu auf der Hand lag, überhaupt keine Rolle gespielt hatten. Klie- mann, der früher aktiver Offizier gewesen war und auch den ersten Weltkrieg als solcher mitgemacht hatte, war mit seinem ganzen Wesen von peinlichster preußischer Korrektheit. Er hat darum, als er von dem Webfehler in seiner Ahnentafel Kenntnis erhielt, auch sofort den zu- ständigen Kreisleiter der Partei informiert, Der hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und ihn dringend ersucht, die Sache auf sich beruhen zu lassen, da die Bewegung solche bewährten und fähigen Führer, wie er einer sei, nicht entbehren könne, Der betreffende Kreis- leiter hat Kliemann dann auch geholfen, die Sache irgendwie zu ver- tuschen, Schließlich wurde aber der Sachverhalt durch die Gestapo auf- gedeckt, und Kliemann wurde nicht nur sofort seiner Würde als SA.- Brigadeführer entkleidet, sondern auch gnadenlos nach Farge gesteckt, wo er nun bei ständig zunehmender Abkühlung seines früheren En- thusiasmus für das Dritte Reich schon seit Jahr und Tag saß. Während unseres dortigen Aufenthaltes ist ihm keiner von uns Imis persönlich nähergekommen, Es war dies bei seinem zugeknöpften, kühl-korrekten Wesen auch fast unmöglich, Außerdem wußte man nie so recht, wie man mit ihm daran war. In seines Herzens Grund war er trotz all seiner schmerzlichen Erfahrungen wohl noch immer Nazi, Aber darauf, was er einmal gesagt hatte, konnte man sich verlassen und er hielt es mit dem, was man ihm selber sagte, nicht anders, Ich sah zum Beispiel, als ich eines Morgens zur Erwärmung einen Schluck Kognak nahm, daß er bei aller seiner sonstigen Selbstbeherrschung einen sehnsüchtigen Blick auf meine Flasche warf, Ich hielt ihm dieselbe, da er mir bereitwilligst schon manchen kleinen Gefallen getan hatte, sofort hin, Er schüttelte den Kopf,

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