gleitung dem Stacheldraht, der das Lager als hohes Gitter lückenlos umgab, allzusehr zu nähern. Denn die an allen Ecken aufgehängte Tafel, auf der zu lesen war,„hier wird ohne Warnung scharf geschossen”, sei keineswegs eine Formalität, sondern bitterer Ernst, und die„germani- schen” Wachposten hätten zwar mehr oder weniger keine Ahnung von deutscher Sprache, aber schießen könnten sie und sie würden um so mehr schießen, je weniger sie uns verständen, Mit Menschenleben würde in Farge um so weniger Federlesens gemacht, als der Begräbnisplatz, um einen langwierigen Leichentransport zu ersparen sinnvollerweise in unmittelbarer Nachbarschaft des Lagers angelegt worden sei.
Hinsichtlich der„Einlieferungsformalitäten” wurden wir darauf auf- merksam gemacht, daß wir etwas von unseren Effekten, aber möglichst wenig, zur„Deponierung” abgeben sollten. Es bestand die strenge Vor- schrift, daß insbesondere alles Geld, alle Wertsachen, wie besonders Uhren und alle Lebensmittelmarken, bei der Einlieferung abgegeben werden müßten. Wir sollten aber unsere Uhren und sonstigen Wert- sachen ruhig behalten und etwas Geld, möglichst einen krummen Be- trag, und von den Lebensmittelmarken nur solche abgeben, die in den nächsten Tagen ohnehin verfallen würden und die wir daher praktisch überhaupt nicht gebrauchen könnten. Wir liefen zwar eine erhebliche Gefahr, wenn man die verbotenen Dinge einmal bei uns finden würde, aber dieses Risiko sollten wir im Interessee der eigenen Bewegungs- freiheit ruhig tragen, Es fing hier bereits am ersten Morgen etwas an, das uns während unserer ganzen Verbannungszeit unwandelbar begleitet hat: Wir mußten, immer in der Gefahr, die unangenehmsten Konse- quenzen heraufzubeschwören, sozusagen jede Stunde eine andere Vor- schrift übertreten.
Bei der Abgabe unseres Gepäcks, d. h. unserer vorher fast entleerten und dann wieder abgeschlossenen Koffer und Behältnisse lernte ich erst- malig den„Kommandanten” des Lagers kennen, Ein Kamerad und ich konnten uns nicht gleich zurechtfinden, da es bei unserer Ankunft in der vergangenen Nacht völlig dunkel gewesen war und so gerieten wir, unsere Effekten in der Hand, statt in die am Lagereingang befindliche Wachbaracke, die unser Ziel war, in die Kommandantenbaracke,„das Prachtgebäude” des Lagers. Als wir uns auf dem Korridor nach dem Gepäckdepot umsahen, öffnete sich die eine Tür und heraus schoß eine lange Gestalt, die mit wütenden Schritten auf uns zustelzte und uns anschrie:„Was wollt Ihr Kerle hier?” Als ich antwortete, wir suchten den Raum, in dem wir unsere Koffer abliefern könnten, wurde das Ge- sicht des Kommandanten krebsrot und er brüllte wie besessen:„Raus... auf der Stelle raus mit euch... und daß ihr euch hier nie wieder blicken laßt.,, nie wieder, ihr verdammten Kerls!" Er verfolgte uns noch mit seiner angenehmen Stimme, als wir seiner freundlichen Aufforderung zufolge die Kommandanturbaracke schon längst verlassen hatten, ohne allerdings bezüglich der Lage des Kofferabstellraumes irgendwie klüger geworden zu sein, Mein Schicksalsgenosse Lüders, ein Bankbeamter, der als Gefreiter den ersten Weltkrieg mitgemacht hatte, meinte, er
29


