Der Kampf um das eigene Ich
Viele Leute behaupten: ,, Je größer die Not, um so fester und stärker die menschliche Gemeinschaft."
Sie sagen, Not bindet, sie schweiße zusammen. Die Feststellung dürfte, wenn sie überhaupt den Tatsachen entspricht, nur sehr allgemein zutreffen.
In den vielen Jahren meiner Gefangenschaft habe ich wiederholt Situationen äußerster Not unter anormalen Bedingungen durchleben müssen und besitze wohl ein Recht dazu, mir über die Auswirkungen dieser Not ein Urteil zu erlauben. Meinen Erfahrungen nach bin ich jedoch zu dem gerade entgegengesetzten Ergebnis des obigen allgemein bekannten Satzes gekommen.
Ein fester Notzustand, der lange Zeit anhält, bindet nicht, sondern reißt auseinander. Er stärkt die Gemeinschaft nicht, sondern er schwächt sie.
Wenn wir, kritisch und unabhängig von den überlieferten Meinungen, an die Untersuchung von krassen Notzuständen auf anderen Gebieten der Menschheit herangehen, werden Ergebnisse erzielt werden, die mit meinen Erfahrungen übereinstimmen. Dabei denke ich nicht nur an rein materielle, sondern auch an geistige Notzustände.
Klar dürfte wohl für alle sein, daß überall dort, wo die dementsprechende materielle Grundlage fehlt, auch keine geistigen Leistungen über dem Durchschnitt zu erwarten sind. Geradezu katastrophal wirkt es sich jedoch aus, wenn geistig hochstehende Menschen aus ihrer gewohnten Lage herausgerissen und in einen Zustand geschleudert werden, wie ihn die Gefangenen der Konzentrationslager
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