Naturrecht beriefen. Die Entwicklung hat aber uns recht gegeben und in Nürnberg bekamen die Rechtspositivisten die Antwort.
4. Unsere Geschichtsauffassung bedarf dringend einer Revision. Sogenannte große Männer erscheinen uns heute vielfach als sehr klein. Unser gesamter Geschichtsunterricht muß auf einen neuen Boden gestellt werden. Nicht das sind die größten Staatsmänner, die große Siege erringen, sondern jene, die den Krieg vermeiden und ein Volk glücklich machen ohne Blutvergießen.
5. Die Pädagogik bedarf dringend einer Erweiterung oder Ergänzung. Es genügt nicht mehr, den werdenden Menschen zu erziehen, daß er ein anständiger Mensch wird; das ist gewiß notwendig und die erste Voraussetzung. Aber schon das Kind muß daraufhin erzogen werden, daß es den Blick fürs Ganze, für die Gesamtheit gewinnt. Wir brauchen nicht bloß Individualpädagogik, sondern Sozialpädagogik. Es war doch vielfach so, daß Menschen, wertvolle Menschen, verständige Menschen, sich etwas darauf zugute taten, daß sie um andere Menschen sich nicht kümmerten. Sie glaubten, das sei vornehm, wenn man möglichst abgeschlossen nur für sich lebe. Wenn heute gerade uns Christen oft der Vorwurf gemacht wird, daß wir nicht ernst machen mit dem Gebot der christlichen Nächstenliebe, dann liegt das vielfach darin begründet, daß unsere Pädagogik sich im allgemeinen damit begnügte, den Menschen für sich allein zu sehen und nicht im Zusammenhang mit der Allgemeinheit. Man denke nur an den zweifelhaften Nachruf, den man oft an Gräbern hören konnte, der Verstorbene habe sich nur um seine Familie gekümmert. Wenn das richtig ist, dann ist es sicher kein Lob, sondern eher das Gegenteil. Die Menschen müssen sich wieder bewußt werden, daß sie Glieder sind eines großen Ganzen, und daß jeder an seiner Stelle mitverantwortlich ist für das Wohl der Allgemeinheit. Diese geistige Umstellung in der Pädagogik halte ich für eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit.
6. Die Philosophie wird in dem geistigen Umbruch unserer Zeit auch viele Stellungen aufgeben müssen. Ich kann mir nicht denken, daß die sogenannte Lebensphilosophie oder auch die Existentialphilosophie ungeschoren aus dem Chaos unserer Zeit hervorgehen. Man konnte schon in letzter Zeit eine verheißungsvolle Begegnung von Naturwissenschaft und reiner Philosophie feststellen. Es war wie bei dem Bau eines Tunnels; von beiden Seiten wird gebohrt, man kommt sich immer näher, man hört schon die Klopftöne, man hofft täglich auf den Durchbruch. Die Naturwissenschaft hatte in den letzten Jahrzehnten durch den ungeheuren Fortschritt ihrer Forschungen, angefangen von der Entdeckung der Röntgenstrahlen 1895, von der Entdeckung des Radiums 1901 bis zur grandiosen Erfindung der
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