Sie sah erbärmlich aus, aber in ihren Augen war in die­sem Augenblick die einstige Kühnheit und Entschlossen­heit. Nachdem sie gegangen war, sagte Marie: ,, Es ist besser so. Ich hätte es nicht ausgehalten, sie immer zu sehn. Es hätte mich verrückt gemacht."

Rada sagte nichts. Immer noch hörte er die Schreie, die Jarmila im Schlaf ausgestoßen hatte. Er hörte sie noch tagelang und nächtelang. Er kam nicht davon los. Ihm war, als hörte er Edmund schreien.

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Der Winter verging, und es kam kein Brief von Edmund. Rada suchte die Angehörigen vieler Studenten auf, die in den Konzentrationslagern gefangen waren. Fast in jedem Hause, das er besuchte, wurde ihm der letzte Brief gezeigt, den der Sohn des Hauses geschrieben hatte. Fast alle Studenten schrieben in regelmäßigen Zeitabständen. In zwei Häusern herrschte Angst, weil die Söhne nicht geschrieben hatten. In einem Hause herrschte Trauer, weil die Eltern erfahren hatten, daß ihr Sohn hingerichtet worden war. In einem Hause herrsch­te Freude, weil der Sohn aus dem Konzentrationslager zurückgekehrt war.

,, Ich weiß nicht, warum ich keinen Brief von meinem Sohn bekomme", sagte Rada überall, wo er etwas zu erfahren hoffte. Und überall tröstete man ihn mit den Worten: ,, Vielleicht war er krank."

Es war ein schlechter Trost, aber Rada lehnte ihn nicht ab. Vielleicht war Edmund von einer schweren Krank­heit befallen worden, die ihn am Schreiben hinderte, die ihn aber nicht umbrachte. Vielleicht schickte er sich ge­

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