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HITLERS GAST
aus, selbst über den Block geschnallt zu werden, unter den konzentrisch auf ihn gerichteten Blicken der in einem ungeheuren Viereck aufmarschierten gesamten Bemannung des Lagers. Und man muẞte nicht nur ,, dabei" sein, man mußte auch hinsehen, ohne die Augen niederzuschlagen. Unablässig auf und ab schreitende Aufseher wachten über die befohlene Blickrichtung. Nur meine Operation und die nachfolgende Spitalsbehandlung bewahrten mich vor dieser Scheußlichkeit.
Weniger bekannt als diese Unmenschlichkeiten, deren die erzählende Literatur unseres Zeitalters sich bereits vielfach versichert hat, ist eine mildere Form der Tortur, die die Nazi nicht so sehr der mittelalterlichen Barbarei als dem preußischen Soldatendrill abgelauscht hatten: das sogenannte Strafestehen. Es war dies eine kollektive Form der Bestrafung, die nicht über einzelne Übeltäter, sondern über ganze Blocks, ja unter Umständen über das gesamte Lager verhängt wurde. In unserem Falle war es die Belegschaft sechs aneinandergrenzender Barakken, etwa fünfzehnhundert bis achtzehnhundert Mann alles zusammen, die für einen unbekannten Täter einzustehen hatte. Über die Schandtat, deren er bezichtigt war und die niemand zu bekennen bereit war, wird noch ein Wort zu sagen sein. Aber bevor ich auf die Schuldfrage eingehe, muß ich die Züchtigung beschreiben, die mit dem einen Schuldigen fünfzehn- bis achtzehnhundert Unschuldige an zehn aufeinanderfolgenden Tagen zu erdulden hatten.
Das von Wall und Graben umgürtete Lager bestand aus zwei Hälften. Die eine Hälfte nahm die eigentliche Barackensiedlung ein, dreißig Baracken für je zweihundert Gefangene, und, dieser Gruppe von Holzbauten gegenüber, aber in beträchtlicher Entfernung von ihnen, das weitläufige Wirtschaftsgebäude, das im Stil des Nymphenburger Schlosses gehalten war, und das die Gefangenen nur betreten durften, wenn sie als ,, Essenträger" im Laufschritt unter Tritten und Flüchen die


