DER HOLLE ZWEITER TEIL

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Kessel mit der kochend heißen Nahrung abholten und die leer­gegessenen im Laufschritt wieder zurücktrugen. Zwischen diesen beiden kontrapunktisch sich zueinander verhaltenden, Macht und Ohnmacht versinnbildlichenden Lagerhälften, dehnte sich der ungeheure ,, Appellplatz, auf dem wir dreimal täglich, mili­tärisch gereiht und in Besichtigungsformation aufgestellt, ge­zählt und gemustert wurden, das erstemal morgens um halb sechs, das letztemal abends um sieben nach dem Einrücken und vor dem Nachtessen. Aber wenn man Strafe stehen mußte, durfte man nicht mit den anderen abtreten. In Habtachtstellung dem Boden reglos verwurzelt, sah man sich verurteilt, bis zum Einbruch der Dunkelheit auszuharren, und damit entfiel dann auch die Abendmahlzeit, deren Entzug ein Teil und der für die ökonomische Lagerverwaltung einträglichste Teil der Strafe war. Das reglose Dastehen von anderthalbtausend Jammer­gestalten, von denen einige hundert über Sechzig und einige Dutzend über Siebzig waren, machte, oberflächlich betrachtet, einen eher kindischen Eindruck. Doch war es im Grunde eine recht ernsthafte Marter, von der Zumutung abgesehen. Dies fiel uns zumal am zehnten Tage auf, der wohlberechnet auf einen Sonntag fiel. An diesem Tage, der der Erholung gewidmet war, fand der Appell schon um vier Uhr nach­mittags statt. Und infolgedessen mußten wir bis zum Ein­bruch der Nacht bewegungslos fünf Stunden lang Habtacht­stehen, ohne uns auch nur die Nase putzen zu dürfen. Von der dritten Stunde angefangen ging etlichen, besonders jenen, die in ihrer Jugend keine militärische Abrichtung genossen hatten, der Atem aus, wofür sie dann natürlich besonders gestraft wur­den. Ich erinnere mich eines alten Mannes, der so verwegen war, eine Reflexbewegung seiner rechten Hand damit recht­fertigen zu wollen, daß ihn eine Fliege an der Nase gekitzelt hätte. Er wurde, da die Fliege nicht nachweisbar und selbst, wenn nachweisbar, keine Entschuldigung war, von einem der

17 Verlorene Zeit