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ERLEBTES OSTERREICH

nur Chemie versteht, versteht auch die nicht."" Worauf er sofort mit einem in Österreich unerhörten Freimut von dem Thron­folger, Aehrenthal und der politischen Lage zu sprechen begann. Daß Serbien gezüchtigt und Italien niedergeworfen werden müßte, stand fest, und nur ein Blinder konnte dies seiner Meinung nach übersehen. Der Thronfolger war ihm zumindest halbblind, der alte Kaiser war es ganz. Wenn Conrad mit einem seiner unzähligen Memoranden herausrückte, wurde dem alten Herrn übel. Er schlug auf den Tisch und sagte: ,, Es gibt nichts, was mir so auf die Nerven geht wie Ihre Memoranden." Er bekam einen roten Kopf, die Schläfenadern schwollen an und der Chef des Generalstabes befürchtete einen Schlaganfall. Eine wortlose Pause, die zehn Minuten dauerte. Dann hatte der Kaiser sich soweit gefaßt, daß er höflich Ich danke!" sagen konnte, womit die Audienz für diesmal zu Ende war.

Aber Conrad kam wieder, immer wieder. Er betrat auf dicken, knarrenden Stiefelsohlen das spiegelglatt gebohnte kaiserliche Arbeitszimmer und überreichte ein anderes Memo­randum und abermals ein anderes, in dem Italien nieder­geworfen und Serbien erledigt werden mußte. Die knarrenden Sohlen waren ein Teil seines Charakters. Der Mann war kein Leisetreter und kein Frömmler. Schlimmer noch, er war ein Protestant, der mit seinem Gott ohne Mittelsperson verkehrte und Kniebeugen nur im Turnsaal gelernt hatte. Darüber kam es fast zum Bruch mit dem Thronfolger, der den Chef seines Generalstabes während eines großen Manövers in der Kirche vermißte. ,, Warum waren Sie nicht in der Kirche?" herrschte er Conrad an. ,, Ich war im Dienst, Kaiserliche Hoheit." Darauf der Thronfolger: Ich kenne Ihre religiösen Anschauungen, aber wenn ich in die Messe gehe, haben Sie auch zu gehen." Und am nächsten Tag stieß Franz Ferdinand den von dem großen Taktiker ausgearbeiteten Schlachtplan um und über­nahm selbst das Kommando des Manövers.