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ERLEBTES USTERREICH

bewohnt und die Geretteten, wie sie einzeln ans Land steigen, gehören den verschiedensten Nationen an und keiner spricht des anderen Sprache. Wie sich einrichten unter diesen Um­ständen für Wochen, vielleicht für Monate, bis das nächste Schiff kommt? Allgemeine Ratlosigkeit, Verwirrung, Hunger, Verzweiflung, bis schließlich einer in höchster Not ein lateini­sches Wort ausspricht. Ein zweiter antwortet und sofort fallen die anderen ein, denn zum Glück haben sie alle das Gymnasium besucht und sind gebildete Leute. Sie sind zum zweitenmal gerettet und wodurch, meine Herren, oder seid ihr Buben? Wo­durch? Durch das Studium der antiken Sprachen. Quod erat demonstrandum."

Die durchsichtige Parabel machte einen nachhaltigen Eindruck auf mein Kindergemüt, so nachhaltig, daß ich mich ihrer dank­bar erinnerte, als ich genau fünfzig Jahre später in einer gleich­falls gemischten Reisegesellschaft über den Atlantik nach Amerika gondelte. Auf dem Verdeck hin- und widerschreitend, suchte ich tagelang nach einer wüsten Insel, an der zu scheitern sich gelohnt hätte. Mein Lateinisch bedurfte dringend einer Auf­frischung, aber selbst wenn ich imstande gewesen wäre ,, Stella est splendida" zu sagen, was würde es mir geholfen haben in einer sternlosen Nacht? Meine Reisegefährten sahen zum aller­größten Teile nicht horazisch aus und drückten sich nicht mit taci­teischer Gebundenheit aus, wenn sie nach dem Abendessen die Weltlage, die zu wünschen übrig ließ, erörterten. Ich glaube, wir waren alle froh, als wir nach einer Woche, ohne weitere Proben und Prüfungen bestehen zu müssen, in New York an­kamen. Das Studium der antiken Sprachen hat seine Reize. Aber seit die Inseln nicht mehr wüst sind und die Festländer es sind, hat es viel von seiner praktischen Bedeutung eingebüẞt.

Dennoch kann ich den Schlußfolgerungen meines verewigten Freundes Zweig ebensowenig folgen, wie ich seine Behaup­tungen unwidersprochen hinzunehmen vermag. Das humani­