Lieber Bruder!
Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Es sind ja nur noch Tage. Für mich und meinen Lebens- willen werden es jetzt nur noch Stunden sein.
Ich habe nun eine Bitte an Dich, lieber Bruder, eine Bitte für die Zukunft. Was mir besonders auf dem Herzen liegt, das ist die Entwicklung meines Kindes. Es ist nicht so sehr die Sorge um die materielle Sicherstellung ihrer Zukunft, als vielmehr die Erfüllung meines Wun- sches und meiner Hoffnungen, die ich an die Erziehung und damit an ihre Entwicklung knüpfe..Ich habe die feste Zuversicht, daß die neue Generation die Probleme unse- rer Zeit nicht mehr kennenlernen wird, daß mit und durch sie auch eine neue Zeit aufkommt. Wirtschaftliche Sor- gen und drückende materielle Daseinsbedingungen, wie sie auf uns lasteten und unser Leben vor allem be- stimmten, werden wohl für sie und damit auch für meine Tochter nicht mehr bestehen. Jedoch in der Formung durch die Verhältnisse ist auch die individuelle Beein- flussung durch die unmittelbare Umgebung enthalten, der Teil der Erziehung, der durch die Eltern oder den Lebens- kreis für die Formung individueller Charaktereigen- schaften am bestimmendsten sein kann. All die unerfüll- ten Hoffnungen und Wünsche, all das, was ich dem Leben nicht abgewinnen konnte, wollte ich in meine Tochter legen, all das sollte sich in ihr erfüllen.
Nun bitte ich Dich, lieber Bruder, Dich Ursulas später anzunehmen, daß sie einmal ihren Vater kennen wird, daß sie einmal verstehen wird, wer ihr Vater war und warum er starb. Wenn Du ihr dann einmal später diesen Abschiedsbrief an Dich zeigen kannst oder mit ihr davon sprechen wirst und sie mich dann versteht, bewußt ver- steht, und nichts weiter an ihrem Vater findet als Gleiches in ihr, dann, lieber Bruder, wirst Du meine letzte
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