Platz ein ausgesuchter Platz in einer Ecke ist, kann von links niemand hören und nach rechts bleibt der Ueberblick. Nennen wir den Platz illegal. Auf der Tischplatte sind einige Striche gezeichnet, die der Häftling sorgsam hütet, damit sie nicht verwischt werden, sein Ex­periment, eine Sonnenuhr. Vor ihm ein Fenster, das nach Süden liegt, und so beobachtet er täglich, wenn sich die Sonne zeigt. Hinter diesem Fenster, das ihm den Blick zum Lagertor vermittelt, beobach­tet er das Kommen und Gehen der SS und macht seine Kameraden aufmerksam, wenn Gefahr im Anzuge ist. Er sieht von seinem Platz aus auch die Scheußlichkeiten der SS, die sich am Lagertor abspielen. Heute ist der 14. April, der Geburtstag des Häftlings Nr. 1407. Er stutzt, als er den Raum betritt. Auf seinem geschmückten Arbeits­tische steht ein großer Korb mit Blumen. Er ist zu seinem Geburts­tag von den Kameraden so reich bedacht worden. Eine Schar von Häftlingen umringt ihn und gratuliert. Dann tritt er näher an den Tisch und wagt kaum, alles anzuschauen. Seine Augen werden feucht. Blumen in solcher Menge, große und kleine Widmungen mit den Namen seiner Freunde: Rudi Renner, Herbert Lange, Karl Barthel , Alfred Ott, Theo Honnacker, August Cohn, Alfred Heckteuer, Karl Wack, Max Mayr , Franz Walgenbach, Heinz Schäfer, Walter Krä­ mer , Heinrich Mühlhausen, Ernst Busse , Willi Steffen, Wilhelm Schuhmann, Karl Wiegand und Oskar Röttger.

Ein Zettel trägt die Unterschrift: Deine Kameraden von der Fulda . Rudi Renner hat ein vierseitiges Gedicht verfaßt, Herbert Lange als Lithograph hat es künstlerisch ausgeschmückt. Woher die Kameraden den Kuchen und andere Besonderheiten beschafft haben, bleibt ihr Geheimnis.

1407 bleibt vor seinem Tische stehen und kann kaum begreifen. Träumt oder irrt er. Wo sind seine Gedanken? Und wieder werden die Augen feucht. Die Leckerbissen verteilt er an seine Kameraden. Sie sollen an seinem Wohlleben teilhaben. Eine Stunde später rückt die Lagerkapelle in den Raum. Sie spielt ihre Weisen zum Geburtstag des Häftlings 1407. Eine Erinnerung an den gestrigen Tag, die er nicht unterdrücken kann, trübt diese Stunden und ihre schönen menschlichen Eindrücke: Gestern, am 13. April 1940, ist im Stein­bruch sein Freund Josef Trummer aus Graz erschossen worden. Beim Frühappell des 20. Juni 1940 wird mein Name erstmalig wäh­rend meiner dreißigmonatigen Lagerzeit aufgerufen mit der Bei­fügung: An Schild 3 antreten. An Schild 3, dem Platz, an dem die­jenigen Häftlinge antreten, welche zur Entlassung kommen. Dieser Tag, dieser Morgen, diese Stunde, diese Minute, die mir verkündet, daß mir das Tor des Konzentrationslagers Buchenwald geöffnet wer­den soll, um mich freizugeben und zurückzukehren nach fünfjähriger Haft. Meine Freunde umringen mich, versuchen, mir schnell noch die Hand zu drücken, einen Gruß an ihre Angehörigen auszurichten.

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