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Dieselbe an Frau Anna Schaeder, geb. Sellschopp.

28. August 47. Geliebte Mutti! Dein Bild steht vor mir, schon seit Wochen.Großmutter kann ich nicht sagen. Erstens, weil Du so jung bist, zweitens, weil ich noch nie JemandenMutter nannte. Jahre zurück wäre diesesDu ein unendlich großes Geschenk ge- wesen. Heute? Es ist schwer, Worte zu finden besonders in meiner Muttersprache, die in den letzten 10 Jahren nicht viel ge- braucht wurde, besonders nicht beim Schreiben. Man ist ver- härtet, erstarrt in Resignation, in Müdigkeit. Der Kampf in diesem Lande um eine Existenz bitter hart. Man war zu alt, als man hier anfing. Man hat immer viel mehr leisten müssen, als man physisch, seelisch konnte. Man wurde immer ärmer an Menschheitsidealen. Ein Jahr 10 Jahre. Das Tempo hier rasend. Wenn man nicht mitmacht, gehts über Einen weg. Ich wünschte, ich könnte noch Manteltaschen abreißen to hell withgesitteter Humanität, wenn das heilige Feuer einer großen Empörung die Seele zerbrennt. Es ist diesegesittete Humanität, diese larvenartige Heuchelei... der Zeitungsausschnitte etc., die auch Du, Hilde, nicht begreifst, weil auch Du infiziert bist. Wie Du nicht die Ekelhaftigkeit spürst, wenn Du den Studenten zitierst,Gott , laß mich nicht zum Nazi werden. Genug davon. Es ist zum Verzweifeln, aber dazu fehlt die Kraft. Ich habe Dich sehr lieb, meine spätgefundene Mutti! Ich möchte mich gerne bei Dir bergen und auch 80 Jahre alt sein. Ich weiß, wir Beide würden ganz einfach reden und uns verstehen. Ich fürchte ich fürchte, für Hilde nicht mehr die rechte Geduld zu haben...

Vor wenigen Tagen kehrte ich zurück aus Frankreich , wo ich den einzigen Überlebenden meiner Familie sah... Als ich mich im Wald von Fontainebleau verlief, kam ich nach Barbizon , einem paradie- sischen Dörfchen, einer Künstlerkolonie. Da war ein schön gelegenes Haus mit Park und Gittertor. Da las ich:Haus für Kinder der Deportierten. Und man öffnete mir. Es ist ein Unterschied, ob Du von diesen Kindern liest, ob Du Deinen monatlichen Beitrag gibst, oder ob Du sie siehst. Jungens zwischen 712 Jahren. Nicht schlecht ermährt. Aber sie können nicht lachen, sie haben nur Augen, sie sind älter als Du, meine neue Mutti! Viel älter. Bevor sie glauben konnten, glaubten sie schon nicht mehr. Mein Franzö- sisch ist schlecht. 5 Jungen zeigten mir den Park. Ich scherzte mit

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