brechenden Flut von Vorwürfen und Beschimpfungen Hitlers und seiner Helfer bis hin zu unserem Lagerpersonal, so daß ich mir sagte: eine Provokateurin oder eine geistig Gestörte— wahrscheinlich beides zugleich. Später habe ich beobachtet, daß die Spitzel in Diensten der Lagerkommandantur sehr häufig geistig Labile oder Kranke, beson- ders auf der Basis von Geschlechtskrankheiten waren. Von den meisten gemieden, waren sie für herzliches Entgegenkommen beson- ders empfänglich und dann in vieler Hinsicht erstaunlich offenherzig. Diese meine Gudrun war wohl körperlich gesund, aber in tiefem inne- ren Zerwürfnis mit sich selbst. Da es Pfingstsonntag war, als sie mich anredete, suchte ich ihre Gedanken über den politischen Bereich hin- aus auf den Frieden von Pfingsten hin zu lenken. Sie schloß sich dem sehnsüchtig auf, und, bevor wir uns von dem verbotenen Sandplatz im der Sonne trennten, bat sie unter Tränen um ein gemeinsames Gebet und küßte mich zum Abschied. Die Kameradinnen warnten mich vor ihr. Ich konnte aber, wenn wir uns wieder begegneten, nicht anders, als diese abgehärmte Gestalt mit dem sehnsuchtsvollen Angesicht in meine Arme zu schließen.
Solche Spitzel waren unter Umständen bereit, für etwas bessere Nak- rung und Kleidung Kameradinnen, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen, in den wahrscheinlichen Tod zu schicken. Zwei an- gesehene Frauen unserer Bürokolonne hatten früh noch mit uns ge- arbeitet, abends standen sie in der allerdürftigsten Kleidung auf dem Lagerplatz, fertig gemacht für den Straftransport. Wieder einmal Lebensmittelveruntreuung, und zwar im Rückfall. Es gelang mir, a die eine der beiden Frauen heranzukommen. Es mußte rasch und leise geschehen. Ich küßte ihr stumm die Hand. Da ging eine tiefe Er- schütterung und Entspannung über ihr bis dahin stolz abweisendes Ge- sicht. Die Lagerpolizei erzählte am nächsten Morgen, daß der Trans- port in eisigem Wind die ganze Nacht auf dem Lagerplatz habe stehen müssen. Kurz darauf ging diejenige Kameradin an mir vorbei, die wir für die Denunziantin halten mußten. Es war Ostermorgen, das zweite Ostern im Lager, an dem eigentlich mir die Vergasung bestimmt war. Ich gab der jungen Frau die Hand, wünschte ihr ein gutes Ostern, was sie freundlich erwiderte, und sagte darauf:„ich kann unsere Beiden in dem Straftransport nicht vergessen, ich sehe sie immerfort vor mir“.„Sie haben selbst Schuld“, meinte sie mit steinernem Gesicht. Da wußte ich, daß diese das Leben der Beiden auf dem Gewissen hatte.
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