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vor Madagaskar und hatten die Pest an Bord. In den Kesseln da faulte das Wasser, und jeden Tag ging einer über Bord. Ahoi! Kleines Mädel! Ahoi! Ahoi!!..." Der Weg zu Siemens führte an der Lagergärtnerei vorbei, und traurig wurde es mir jedesmal ums Herz beim Anblick von Gewächshaus und Blumenbeeten. Hinter der Gärtnerei mußten wir Eisenbahnschienen überqueren. Einmal waren die Schranken geschlossen und unsere Kolonne pausierte gerade vor dem Schweinestall. Dort lag ein großer Haufen Kohlrüben. Im Zeitraum von Sekunden verschwanden sie ratzekahl. Die Aufseherin bemerkte es und sagte nichts als: ,, Nun langt's aber!"
In der Arbeitsbaracke hatte die Aufseherin Ehlert ihren Platz neben meinem Schreibmaschinentisch. Ich konnte sie den ganzen Tag beobachten. Sie war eine üppige, blonde Walküre, die gerne laut lachte, gut und viel aẞ, und der die Vorstellung, daß andere hungern müßten, schrecklich war. Gutmütig beschenkte sie eine Reihe Häftlinge ihrer Kolonne fortgesetzt mit Essen. ,, Gehn'se mal dort hinten an den Dienstzimmerschrank und werfen Sie das Paket in den Papierkorb! Gucken Sie aber vorher rein!" Da lagen dann mehrere Schnitten belegten Brotes. Am liebsten saß sie den ganzen Tag am Tisch und klatschte. Jemand zur Arbeit antreiben oder etwa gar beaufsichtigend in den Gängen umherstreifen, strengte sie viel zu sehr an und lag ihr gar nicht. Ohne Ingenieur Grades Ermunterung hätte sie wohl nie eine Meldung gemacht. Schon nach einigen Monaten wurde sie strafversetzt und nach Kriegsschluß im Bergen- Belsen - Prozeß zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurteilt.
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Im Herbst 1942 ging ein neuer Transport Frauen nach Auschwitz , unter ihnen auch alle extremen" Bibelforscherinnen. Noch immer wußten wir nichts Genaues über Auschwitz . Aber bald sollte ich die erste Aufklärung erhalten.
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Wenn sich ein Häftling der Siemens- Kolonne krank fühlte, wurde. er im Betrieb aufgeschrieben, von dort aus ins Revier geführt und vorzugsweise behandelt, d. h. man brauchte nicht stundenlang anzustehen. Die Firma Siemens war daran interessiert, den Arbeitsausfall" nach Möglichkeit zu verkürzen. Bei einem solchen Gang ins Revier bemerkte ich eine Kolonne Bibelforscherinnen, die beim Zellenbau in der Ecke des Lagerplatzes stand. Ich konnte die Gesichter nicht genau unterscheiden, aber sie kamen mir bekannt vor. Unter dem Vorwand, etwas in der Baracke vergessen zu haben, schlich ich mich von hinten an den Zellenbau und schon hatten sie mich erkannt. Es waren zwölf oder fünfzehn von den Extremen, die vor kurzem erst nach Auschwitz gebracht und nun wieder zurücktransportiert worden waren. Eine von ihnen, Rosl Hahn aus Ischl , rief:„ Komm her, Grete! Ich muß dir etwas Wichtiges
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