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Milena sprach ein Deutsch mit weichem slawischen Tonfall. Sie reichte mir die Hand, ohne die Finger zu krümmen und bat: ,, Aber nicht so heftig schütteln, bitte!" Ich blickte in ihre umschatteten Augen, in ein von tiefem Leid gezeichnetes Gesicht mit grauer Gefängnisfarbe. Milena war hochgewachsen, trug ein langes, schlotterndes Häftlingskleid und große Stiefel. Unter dem vorschriftsmäßigen Kopftuch drängten sich kleine, muntere Locken hervor. Von Lotte hatte sie über mein Schicksal gehört und wünschte mich kennenzulernen als Journalistin, als ein Mensch, der Fragen stellte. Bis dahin hatte ich nicht gewußt, daß Fragen­stellen eine Kunst sein kann. Milena meisterte sie. Auf dem schmalen unter dem strom­so taufte sie ihn Weg an der ,, Klagemauer " geladenen Stacheldraht, erzählte ich ihr bei den Spaziergängen der kommenden Tage meine Geschichte. Milena und ich waren von der ersten Stunde an Freunde, und wir blieben es auf Leben und Tod durch vier bittere Lagerjahre. Ich dankte dem Schicksal, nach Ravensbrück ge­kommen zu sein und Milena Jesenska getroffen zu haben. Vom ersten Tage an ergriff mich eine dumpfe Angst, wenn ich in ihr leidendes Ge­sicht sah. Sie kam krank aus dem Untersuchungsgefängnis Dresden . Sie glaubte, es sei Rheumatismus . Ihre Hände waren geschwollen, sie hatte immer Schmerzen, sie fror in den Lagerlumpen beim stundenlangen Zählappell, sie konnte sich nachts unter den dünnen Decken nicht er­wärmen. Aber sie war ein starker Mensch und verstand es immer wieder, meine Sorgen zu zerstreuen. 1940 war sie noch ungebrochen, mutig und voller Initiative, und so fern jeder Häftlingsmentalität. Als ich sie vor­sichtig fragte, ob sie Hunger habe, lehnte sie ab, über dieses Thema überhaupt zu sprechen, und eine Brotration, die ich ihr brachte, ver­weigerte sie gereizt anzunehmen. Später gestand sie mir, daß es ihr furchtbar gewesen sei, mit Brot beschenkt zu werden.

Milena Jesenska war 1939 von der Gestapo in Prag verhaftet worden. Sie hatte als Redakteurin an der tschechischen Zeitschrift ,, Pschitemnost" gearbeitet. Als die Deutschen die Tschechoslowakei be­setzten, half sie tschechischen Fliegern und Offizieren zur Flucht ins Aus­land und beteiligte sich an der Widerstandsbewegung gegen die deutschen Okkupanten.

Den tschechischen Kommunistinnen in Ravensbrück war Milenas politische Einstellung wohl bekannt, trotzdem umwarben sie sie und ver­schafften ihr eine gute Arbeit im Krankenrevier. Unsere Freundschaft war noch kaum zwei Wochen alt, als die Wortführer der tschechischen Kommunistinnen, Paleckova und Ilse Mach, an Milena herantraten und ihr die Frage stellten, ob sie wisse, daß ich eine Trotzkistin sei, die Lügen über die Sowjetunion verbreite. Milena erklärte ihnen, daß sie mich be­reits gut genug kennengelernt habe, um meine Berichte über Rußland beurteilen zu können. Einige Tage später stellte man ihr eine Art

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