von der SS gestohlen. Auch in der Häftlingskantine konnte man bald nur noch minderwertiges Zeug, wie Fischpaste, die aus Heringsköpfen und Gräten hergestellt schien, und irgendwelche abscheulichen ,, Gemüse­salate" einkaufen.

Eine junge Bibelforscherin, Ilse Unterdörfer, entdeckte im Alten Testament den Befehl Jehovas: ,, Lasset das Blut zur Erde fließen!" und erläuterte ihren Schwestern, daß man fortan das Essen von Blutwurst einstellen müsse. Ungefähr fünfundzwanzig der ,, Extremen" beschlossen, von nun ab die Annahme der Blutwurst zu verweigern. Es gab unter den Bibelforschern drei ,, Fraktionen", die ,, Extremen", die ,, schwan­kende Mitte" und die ,, Gemäßigten". Sie trugen regelrechte Fraktions­kämpfe aus, bezichtigten einander des Verrats an den Glaubenssätzen, wozu sie Vergleiche aus der biblischen Geschichte heranzogen und legten ihren Fraktionsgegnern Namen alttestamentarischer Verräter zu. Als ich von dieser Weigerung hörte, nahm ich an, die Blutwurst schmecke den Bibelforschern schlecht und das tat sie auch wirklich. Darum machte ich ihnen den Vorschlag, soweit es durchführbar sei, allen denen, die keine Blutwurst mögen, Leberwurst zu geben. Aber da hatte ich nicht mit Jehovas Befehl gerechnet. Denn es ging ja gar nicht um die Blutwurst, es ging um eine Demonstration zu seinen Ehren. Die Extremen mußten von sich reden machen, sie wollten einen Angriff der SS provozieren, es gelüstete sie nach Leiden. Und so fertigten sie eine Liste mit den Namen aller derer an, die laut Jehovas Befehl von nun ab den Genuß der Blut­wurst verweigerten. Die Liste wurde ,, nach vorn" gebracht, und die SS lachte sich ins Fäustchen: Wenn die keine Blutwurst fressen wollen, kriegen sie auch keine Margarine. Eine vorzügliche Sparmaßnahme.

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Der ersten Verweigerer- Liste" folgte eine zweite. Erbitterte Kämpfe zwischen den Extremen" und, Gemäßigten" wurden auf den Bibelforscherblocks ausgetragen. Wie zu erwarten, reagierte die Lager­leitung nicht nur mit dem Entzug der Margarine, sondern ersann drastischere Maßnahmen. Die Oberaufseherin Zimmer war die Initiatorin. Der Bibelforscherblock bekam hundert asoziale Zugänge, darunter alle ,, Schmuckstücke". Das war die Strafe. Diese hundert sollten über die Bibelforscher wachen, d. h. sie denunzieren, wenn sie sie beim Bibel­auslegen" oder bei religiösen Gesprächen erwischten. Das war ein schwerer Schlag für die Zeugen Jehovas", aber nicht minder für deren Block­älteste. Denunziation, Diebstahl, Prügelei waren in unseren friedvollen Block eingebrochen, wie die Wölfe in die Schafherde. Die Bibelforscher unterstützten mich bei meinem schweren Amt, so daß ich mit ihrer Hilfe ein halbes Jahr solange währte diese Strafe alle gefährlichen Klippen ohne eine Meldung umschiffen konnte. Die höchste Leistung war, daß wir weiter Besichtigungsblock blieben. Die Bibelforscher verdoppelten ihre Anstrengungen und hielten ihren ,, Musterblock" auch mit Asozialen in Ordnung.

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