keine Möglichkeit mehr bestände, den Namen der Anna Lück zu streichen. Wir überlegten lange, wie man sie retten könnte und fanden nur einen Ausweg: sie zum ,, Unterschreiben" zu bewegen. Ich ging mit schwerem Herzen zu ihrem Bett. Wenn ich doch die Worte finden könnte, um diesen Menschen zu überreden! Meine Erregung übertrug sich auf die Kranke; ihr eingefallenes Gesicht schien nur noch aus großen, entsetzten Augen zu bestehen. Ich sagte ihr ohne Umschweife, was geschehen sei und brachte dann alle mir zur Verfügung stehenden Argumente vor, um ihr das Unterschreiben zu erleichtern. Als ich von ihr ging, machte es den Eindruck, als würde sie sich sofort ankleiden und zur Oberaufseherin gehen. Nach ungefähr einer halben Stunde, ich saß gerade im Dienstzimmer, kam Ella Hempel herein. Mit einem Gesicht voller Abscheu und Leidenschaft stieß sie die Worte hervor:„ ,, Grete, das hätte ich nie von dir gedacht, daß du im Bunde mit dem Teufel bist! Daß du gemeinsame Sache mit der SS machst!"" Ich verstand nicht sofort, was sie meinte. ,, Was ist los? Was willst du?" ,, Du hast Anna Lück geraten, zum Unterschreiben zu gehen. Wie konntest du so etwas tun!" Da war es um meine Ruhe geschehen und das erste und einzige Mal habe ich in wirklichem Zorn mit einer Bibelforscherin gebrüllt. ,, Ihr wollt Christen sein? Und liefert eure Schwester kaltblütig dem Gas aus? Nenne mir christliche Gebote, die so etwas gutheißen können! Ist das Nächstenliebe?! Nicht nur eure Kinder laßt ihr im Stich und seht ruhig mit an, wie man sie in Hitlerheime steckt und malträtiert, nein, ihr leistet zu Ehren Jehovas einem Mord Vorschub. Kaltherzige Bestien seid Ihr!!"
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Dieser Ausbruch kam Ella so unerwartet, daß sie entsetzt aus dem Zimmer rannte. Ich nahm an, sie nun für alle Zeit zur Feindin zu haben. Aber weit gefehlt. Von da ab war sie die Unterwürfigkeit in Person und erst das machte sie mir unsympathisch.
Diesem Ereignis waren aber schon eine Reihe folgenschwerer vorausgegangen. Eines Tages kam eine Bibelforscherin zu mir und erklärte, daß ein Teil ihrer ,, Schwestern" von jetzt ab sich weigere, Blutwurst zu essen. Mit dieser Blutwurst verhielt sich die Sache so: In Ravensbrück bekamen wir bis 1943 außer der täglichen Ration Brot von ungefähr 500 Gramm, mittags einen halben bis dreiviertel Liter Gemüse und sechs Pellkartoffeln, abends eine Suppe und eine Zeitlang auch am Morgen. Sonnabends und Sonntags aber als Abendessen ,, kalt". Dieses ,, kalt" bestand aus ungefähr 20 Gramm Margarine, dazu Sonnabends einen kleinen ,, Sechserkäse" und Sonntags ungefähr 35 Gramm Leber-, Fleisch- oder Blutwurst. Die Ernährung in Ravensbrück verschlechterte sich ab 1941 von Woche zu Woche. Hülsenfrüchte oder Teigwaren verschwanden vollkommen und die Fettzuteilung im Essen wurde immer geringer. Der wöchentliche Löffel Schmalz hörte schon 1941 auf, und Marmelade gab es nur noch einen Eẞlöffel pro Woche. Die Zuckerzuteilung wurde restlos
14 Buber: Gefangene.
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