Ella saß mit dem Brief in der Hand und die Tränen flossen. Da be­gann ich mit ihr zu reden: ,, Ella, wie kannst du so etwas ertragen? Vier Kinder alleine lassen?! Wo du die Möglichkeit hättest, heute noch heim­zufahren?" Sie warf den Kopf in den Nacken: Ja, so etwas kann ein Weltmensch' wie du eben nicht verstehen. Jehova befiehlt:, Du sollst dein Weib und Kind verlassen und mir nachfolgen'..." Die Tränen waren versiegt und mit fanatischem Gesicht stürzte sie sich, einen Wisch­lappen in der Hand, auf das Reinemachen im Block.

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Diese Frauen waren aus verschiedenen Gründen Zeugen Jehovas" das waren geworden: einige als Ehefrauen bibelforschender Männer meist die ,, Gemäßigten" andere stammten aus Bibelforscherfamilien und waren nicht älter als zwanzig Jahre. Die übrigen aber hatten irgend­wann die ,, Erleuchtung" erfahren. Soweit die Bibelforscher über ihre häuslichen Verhältnisse und die Vergangenheit sprachen, erfuhr ich, daß sie meist aus sehr dürftigen Verhältnissen kamen, immer mit wirtschaft­lichen Schwierigkeiten hatten kämpfen müssen, meist vom Leben tief enttäuscht worden waren, und, soweit sie verheiratet waren, unglück­liche Ehen geführt hatten. Sie flüchteten vor der Verantwortung, die ihnen der Kampf ums Dasein auferlegt hatte, in die Märtyrerrolle einer ,, Zeugin Jehovas " und eiferten in dessen Namen gegen die ungläubigen Weltmenschen". Seit sie Bibelforscher geworden waren, hatte sich ihre Stellung im Leben mit einem Schlage gewandelt: aus unterdrückten, dienenden, mit dem harten Schicksal unzufriedenen Menschen wurden sie zu ,, Auserwählten", erhoben sie sich über die gesamte Menschheit. Ihr einstiger Groll gegen die ihnen widerfahrenen Ungerechtigkeiten ver­wandelte sich in Haß gegen alles, was nicht zu ihrer Glaubensgemein­schaft gehörte. Jede einzelne fühlte sich als auserkorenes Werkzeug des rächenden Gottes Jehova und schwelgte in der Vorstellung vom baldigen Sturz der Menschheit in die Verdammnis, von dem nach ihrer Meinung nur einige tausend Bibelforscher ausgenommen waren.

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Bei einem Ereignis, das spielte sich erst im Frühjahr 1942 ab, war es um meine Duldsamkeit geschehen. Ich erwähnte schon die Kranken­transporte ins Gas und die Aufforderung der Lagerleitung an die Blockältesten, ihre Arbeitsunfähigen", Krüppel", geistig Minder­wertigen" usw. auf Listen zu schreiben. Ich erklärte selbstverständlich, daß auf meinem Block nur Gesunde und Arbeitsfähige seien. Unter meinen Kranken gab es eine mit offener Drüsentuberkulose. Das war Anna Lück, eine Frau von 50 Jahren. Sie lag meistens im Bett. Nun ver­langte es aber ihr Leiden, daß sie von Zeit zu Zeit verbunden wurde. Einmal bemerkte sie dabei im Krankenrevier der SS- Arzt und ließ sie sofort auf die Krankentransportliste" schreiben. Ich erfuhr es einige Tage später von meiner Freundin, die im Krankenrevier arbeitete. Sie teilte mir mit, daß die Liste bereits vom Arzt unterschrieben sei und so

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