schliefen. Wir erhielten Armeeverpflegung. In Warschau rangierte man unseren Waggon, um ihn an einen anderen Zug zu hängen. Da standen wir eine ganze Zeit unter einer Überführung. Schon damals sah die Stadt sehr zerstört aus. Über die Brücke gingen Frauen mit ganz absonder­lichen Kopfbedeckungen. Was haben denn die auf? Das ist aber zum lachen?!" So reagierte ich auf die neueste Mode, weil ich jahrelang keine Hüte gesehen hatte.

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Auf dieser Fahrt wurden keine politischen Gespräche mehr geführt. Einer erzählte von seiner Jugend, wie er seiner Mutter durchbrannte, die Schutzbündler schwärmten von Skitouren; durch alle Gespräche klang die Sehnsucht heimzukommen. Man vermied von dem zu sprechen, was vielleicht schon morgen oder übermorgen eintreffen würde. Ich habe gehört, daß wir in Neu- Bentschen ausgeladen und dort ins Gefängnis gebracht werden", flüsterte mir einer zu. Und richtig. In Neu- Bentschen hieß es: ,, Los, alles raus!" Wir standen in Reih und Glied auf dem Bahn­hof, da ertönte das Kommando: ,, Alles wieder einsteigen!" Angeblich hatte man eine Nachricht zum Bahnhof geschickt, daß das Gefängnis von Neu- Bentschen überfüllt sei. Wir fuhren weiter. Dann hielt der Zug in Schwiebus . Wieder standen wir auf dem Bahnsteig. Der Zug fuhr davon, und wir marschierten schweigend durch das verdunkelte Städtchen, irgendeinem neuen Gefängnis entgegen.

,, Ein merkwürdiges Gefängnis hat dieses Schwiebus !" Vor einem Ge­bäude, das im Dunkeln wie ein Bauernhaus aussah, machten wir Halt und traten in eine große Gaststube mit Holztischen, bunten Gardinen und getäfelten Wänden. Wir waren in der ,, Herberge zur Heimat" des Städt­chens Schwiebus . Entweder gab's da kein Gefängnis, oder es war ebenfalls überfüllt. So wurden uns fünf glückliche Tage geschenkt, die letzten vor den kommenden grauenvollen Jahren des Konzentrationslagers.

Herbergsvater und Herbergsmutter blickten zuerst verwundert auf die neuen Gäste, die unter Gestapobewachung dort eintraten. In Pelz­mützen, vorsintflutlichen Mänteln, manche in hohen Filzstiefeln, wie uns eben die NKWD für Europa eingekleidet hatte, standen alle mit gleichen staunenden Gesichtern in einem richtigen privaten Zimmer, keiner Zelle, keinem Barackenraum. Gardinen statt Gitter, Bilder an den Wänden statt einer Gefängnisordnung, eine junge, verlegen lächelnde Wirtin, die uns aufforderte, Platz zu nehmen, statt einer keifenden Aufseherin. Der Gestapomann gab dem Herbergsvater einige Anweisungen. Da hörte ich zum erstenmal, daß man uns mit ,, die Rückwanderer" betitelte. Wie liebenswürdig und rücksichtsvoll doch die Gestapo sein konnte.

Wir hängten unsere Sachen an einen Kleiderhaken, manche wagten gar nicht so recht, sich auf richtige Stühle zu setzen. Ich öffnete vorsichtig die Küchentür, da stand die Herbergsmutter und bereitete uns ein Abendessen, richtige belegte Brote, keine ,, Ration", sondern in Scheiben

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