Am frühen Morgen des 17. April fragte mich Brigadier Hughes, ob ich Madame Chassaigne im Lager finden könne. „Sie ist eine Nichte Lord Bennets,* des früheren kanadischen Premierministers. Wir wollen sie herausholen“, sagte er.
(Das war vor der völligen Fertigstellung des Aufnahme- hospitals, aber einige Betten waren bereits verfügbar.)
Ich ging in das weite Gelände hinter dem kleineren Frauen- lager, wo einige hundert Französinnen in Zelten lebten, die sie dem SS-Ausrüstungslager vor zwei Tagen entnommen hatten. Madame Chassaigne teilte eines dieser kleinen Zelte mit einer anderen Französin und litt an den Nachwirkungen jener ersten ordentlichen Mahlzeit am 16. April. Sie war er- freut zu hören, daß sie aus dem Lager ins Krankenhaus über- geführt werden sollte, aber es fiel ihr schwer, sich von ihrer Freundin Jeanette zu trennen, die weinte, als sie sie verlassen mußte.
Als wir durch.das Lager fuhren, fragte ich sie, wie sie nach Belsen gekommen sei.
„Ich bin mit einem Franzosen verheiratet“, sagte sie.„Ich lebte in Tours, und eines Tages, als ich auf die Straßenbahn wartete, verhaftete. mich ein deutscher Polizeibeamter, und ich wurde nach Deutschland gebracht. Ich mußte in einer Gummifabrik in Bremen arbeiten, und dann wurden wir vor drei Wochen nach Belsen gebracht.“
Ich brachte sie in die Baracke nahe beim Eingangstor, um auf ihre Ambulanz zu warten. Sie trug den Porzellannapf, den sie im Fabriklager und im Konzentrationslager benutzt hatte und den sie nicht zurücklassen wollte.
Später am Vormittag traf ich Paul Hilfinger, einen reizen- den, intelligenten und energischen jungen Mann, Chemiker an der Universität Straßburg , deren ganze chemische Fakultät wegen Widerstandes gegen die Deutschen - verhaftet worden war. Er sprach von den Mißbräuchen, der Korruption und den Tragödien des Lagers, insbesondere von der erschütternden Möglichkeit, daß Hunderte mutiger Männer und Frauen der Widerstandsbewegungen sterben könnten,-wenn ihnen nicht die notwendige Nahrung, Medizin und Pflege bald gewährt werden könnte.


