Scheu, ich fuhr lieber mit der Tram. Vorne beim Wagenführer würde ich kaum Gefahr laufen, von alten Bekannten gesehen und erkannt zu werden. Außerdem hatte ich einen dichten, schwarzen Trauerschleier vor das Gesicht gebunden. Ich erreichte rasch und ohne Zwischenfall das wohlbekannte Haus. Niemand begegnete mir auf der Treppe. Auf mein Läuten wurde mir sofort geöffnet, man hatte mich schon erwartet. Ich fand außer Eva und den beiden Freundinnen noch eine alte Bekannte vor, die sie zur Beratung zugezogen hatten. Du erinnerst Dich an Gretchen, Marias Schülerin, die uns auch in den ersten Jahren im Isartal besucht hatte. Sie erkannte mich fast nicht, ein Zeichen, daß ich mich wirklich sehr verändert hatte, was mir unter den gegenwärtigen Verhältnissen nur lieb sein konnte. Gretchen war eine Idee gekommen, nachdem man ihr kurz alles Notwendige über mich mitteilte. Sie hatte bis vor kurzem bei einem Fabrikbesitzer als Sekretärin gearbeitet, der ihrer Schilderung nach ein besonderer Mensch sein mußte. Er war etwa siebenundsechzigjährig, unverheiratet, besaß in der Nähe seiner kleinen Fabrik eine Wohnung am Nollendorfplatz. Er sei unglaublich hilfsbereit und ein Gegner der Nazis, wie sie sonst keinen kenne. Für seine Arbeiter und Angestellten sorge er wie ein Vater, und sie hingen entsprechend an ihm. Sie selbst habe die Stellung bei ihm nur aufgegeben, weil sie wieder in ihre alte Tätigkeit als Vorsteherin eines Anwaltsbüros gestrebt habe. Doch gehe sie einmal im Monat in seinen Betrieb, um bei der Monatsabrechnung zu helfen, und besuche ,, Onkel Karl", wie sie ihn nannte, auch privat häufiger einmal. Sie wisse, daß er seit längerem nach einer zuverlässigen älteren Frau suche, die ihm Wohnung und Wäsche in Ordnung halte. Vielleicht sei er bereit, mich bei sich aufzunehmen. Seine geräumige Vierzimmerwohnung biete genügend Raum. ,, Ich rufe ihn jetzt gleich an und sage ihm, daß ich jemanden gefunden hätte, der ihm die Wirtschaft führen wolle", schloß sie ihren Bericht. Herr R. meldete sich sofort am Apparat.
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