Dann machten wir uns zu unserem schweren Gang auf. Für einen unbeteiligten Zuschauer wäre es psychologisch interessant gewesen, zu beobachten, wie die einzelnen auf die schreckliche Nachricht reagierten. Ich war viel zu be­drückt, um solche Feststellungen zu machen, erst jetzt, beim Niederschreiben, ist mir dieser Gedanke gekommen. Thekla Land war eine der ersten, die ich rief. Sie wurde blaẞ bis in die Lippen, aber sie bewahrte eine bewunderns­werte Haltung. Meine Zuneigung für sie war noch größer geworden. Eine ganze Reihe von Frauen nahm den schwe­ren Schlag ähnlich ruhig und würdig hin. Nur drei verloren völlig jede Beherrschung, weinten, schrieen und klagten Gott und die Welt an wegen des Unheils, das über sie her­einbrach. Als ich einer dieser Frauen beruhigend zusprach - auch da wieder erfuhr ich, wie armselig sind Worte, wie wenig kann man Mitfühlen und Mitleiden dem anderen Menschen so zeigen, daß es ihm tragen hilft!- kam unsere Aerztin mir zu Hilfe, die zu ihrer Sprechstunde im Heim war und schon Bescheid wußte. Gemeinsam gelang es uns schließlich, wenigstens das laute Geschrei zu stillen. Zuletzt rief ich Fräulein Schüle, die mit ihrer älteren halbgelähm­ten Schwester und einer schwerkranken Schwägerin in einem Zimmer wohnte und beide mit rührender Aufopfe­rung pflegte. Frau Dr. Weiß, unserer Aerztin, und mir war es ein unfaẞlicher Gedanke, daß man diese Menschen tren­nen, die Gesunde deportieren und die beiden anderen hilf­los zurücklassen sollte. Fräulein Schüle brach uns fast ohn­mächtig zusammen, als wir ihr den Brief gaben und ihr sagten, daß sie fort müsse. Frau Dr. Weiß versprach ihr, als Aerztin bei der Gestapo zu versuchen, sie freizube­kommen, bat sie aber, sich nicht allzu große Hoffnungen zu machen, daß es ihr gelingen werde. Ich will gleich hin­zufügen, daß es ihr nicht gelungen ist, daß es auch nicht gelang, als ein Ersatz für sie sich freiwillig zur Deportation gestellt hatte. Die Gestapo lehnte kurz ab, eine Aenderung vorzunehmen. Frau Dr. Weiß ist ein tatkräftiger, mutiger

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