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zulassen, Du erlebst sie ja mit, wenn auch auf der anderen Seite, während das, was ich hier niederschreibe, Dir den Ablauf meines Lebens zeigen soll, den Du nicht mit mir teilen kannst. Heute empfinde ich als zwingende Notwen­digkeit, aufzuschreiben, was mich unaufhörlich beschäf­tigt und bedrückt. Am Montag erhielten wir die er­schütternde Mitteilung von der Reichsvereinigung in Berlin , daß am 22. Februar kurzerhand ohne jede Vorbereitung innerhalb weniger Stunden alle Juden Stettins und des größten Teiles Pommerns, im ganzen etwa tausend Men­schen Männer, Frauen, Kinder, Greise- abtranspor­tiert worden sind. Ziel: unbekannt, wahrscheinlich nach Polen , dem sogenannten Generalgouvernement. Ist das der Anfang einer allmählich das ganze Reich umfassenden De­portation, oder handelt es sich um eine Einzelaktion eines besonders tüchtigen nationalsozialistischen Gauleiters? Wir wissen es nicht, doch bin ich eher geneigt, die erste Hypo­these für die wahrscheinlichere zu halten.

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Vorgestern nun kam der junge Rabbiner Fink, den wir schon vom Religionsunterricht unserer Kinder her kennen, sehr aufgeregt zu Herrn Rat. Er oder vielmehr seine Eltern hatten die erste direkte Nachricht von den De­portierten erhalten. Der Bruder Finks war Rabbiner von Stettin und mit seiner jungen Frau abtransportiert worden. Es war ihm gelungen, unterwegs einen kurzen Brief an die Eltern abzusenden. Sie waren in der Nacht des 22. Fe­bruars bei entsetzlicher Kälte in Viehwagen eingeladen worden. Jeder hatte einen Koffer mit den notwendigsten Sachen in aller Eile packen und mit zum Bahnhof nehmen dürfen. Dort wurde er ihnen abgenommen, um, wie ihnen gesagt worden war, in einem besonderen Wagen mitge­führt zu werden. Sie persönlich seien gesund, ihr Ziel sei voraussichtlich die Gegend der polnischen Stadt Lublin . Er würde, sobald er könnte, wieder schreiben. Er und seine Frau seien zufrieden, bei ihrer Gemeinde zu sein. Man sah dem Brief an, daß er in großer Eile und Aufregung und

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