uns zu erheben. Wir sind gezwungen, uns mehr und mehr selbst zu verwalten und alle menschlichen und kulturellen Bedürfnisse aus dem eigenen Kreis zu befriedigen. Auch darin haben es die übrigen deutschen Städte mit größeren jüdischen Gemeinden besser als München : Sie haben den jüdischen Kulturbund, der Konzerte, Theater, Filme und Vorträge aller Art bringt. Hier ist er nicht erlaubt; jede geistige Anregung, jede künstlerische Entspannung fehlt, nachdem allen Juden der Radioapparat genommen wurde und damit ein nicht zu unterschätzendes Ventil! Denn die von mir angeführte Reaktion auf alle Schikanen ist doch nur mehr oder weniger äußerlich, je nach der Sensibilität des einzelnen, im Innern wird all das Kränkende, Aus- schließende nicht nur registriert, sondern es hinterläßt schwärende Wunden, die bei den meisten allmählich Seele und Geist vergiften.
Eine unserer Fürsorgerinnen war dieser Tage in Berlin und berichtete, daß dort von all diesen Schwierigkeiten vorläufig wenig oder nichts zu spüren sei. Wohl haben die Berliner Juden am 10. November 1938 durch die Ver- brennung der Synagogen und die Zertrümmerung der Ge- schäfte, auch durch eine Anzahl von Verhaftungen einen ersten starken Schock bekommen, der aber nun über- wunden ist. Sie führen ihr normales Leben fast unbehindert weiter und scheinen sich auch in der Reichsvereinigung, der Zentralisation der ganzen jüdischen Gemeinden des Reiches, fast gefährlich sicher zu fühlen. Jedenfalls hatte Frau Dr. R. den Eindruck, als wenn man dort alle ständig sich steigernden Schwierigkeiten bei uns betrachte wie ein Zuschauer im sicheren Hafen ein Schiff, das verzweifelt mit dem Versinken in den Wellen kämpft. Wir alle sind davon überzeugt, daß immer neue Schläge und immer schwerere folgen werden; wir sind darauf vorbereitet, sie zu empfangen und sie mit zusammengebissenen Zähnen zu ertragen. Für die anderen werden diese Schläge wie Blitze aus einem noch einigermaßen heiteren Himmel kommen.
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