Isartal, den 5. September 1939

Heute vormittag erschien Frau Pr., um Tilla zu bitten, ihrem Sohn Horst, der etwa 14 Jahre alt ist, Mathematik­stunden zu geben. Natürlich war Tilla gern bereit dazu. Ich freue mich für sie; auf die Dauer würde ihr die Füh­rung unseres kleinen Haushalts bestimmt nicht genügen. Wir plauderten noch ein bißchen mit Frau Pr. Sie wollte wissen, ob ich Nachricht von Dir hätte, was ich bejahen konnte. Als sie sich verabschiedete, lud sie uns sehr freund­lich ein, sie zu besuchen. Sie war kaum fort, als Almuth, die Tochter unserer Nachbarn, atemlos von der Schule herübergelaufen kam und fragte, ob Tilla nicht vertre­tungsweise einige Stunden geben wollte. Einer der Lehrer war eingezogen worden und noch kein Ersatz vorhanden. Tilla möchte doch gleich mit ihr kommen. Die fünfzehn­jährige Almuth war sehr stolz, daß sie, die mit ihren Geschwistern längere Zeit von Tilla unterrichtet worden war, diesen Ausweg gefunden hatte. Tilla selbst war nicht so entzückt; um fortlaufend Stunden in der Schule zu übernehmen, hätte sie einer besonderen Lehrerlaubnis des zuständigen Schulrats bedurft, und sie wollte so wenig wie möglich mit Behörden zu tun haben, schon unseres Zu­sammenlebens wegen nicht. Aber vertretungsweise würde sie auch in der Schule aushelfen.

Um dieser Schule willen hatten wir im Jahre 1934 dieses Dorf als Wohnort gewählt. Unsere Kinder haben dort gute Jahre gehabt, sowohl Lehrer wie Kameraden ließen sie ihre jüdische Rassenzugehörigkeit nicht fühlen. Neben der Schule, die von außen einem Landhaus glich, von einem ziemlich großen Garten umgeben, lag das Haus, in dem wir nach Beendigung der leidigen Denunziationsaffäre eine neue Heimat finden sollten. Vom Augenblick an, da wir beide es zur Besichtigung betraten, wußte ich: ,, Das ist das Richtige für uns!" Mit seinem Besitzer, einem Münchner Augenarzt, wurden wir schnell einig, und das

5 Behrend, Ich stand nicht allein

65