kamen, so gegangen sei. Alle seien gefangen worden von ihrem anziehenden Äußern, ihrem vielseitigen Wissen und ihrer liebenswürdigen Plauderkunst. Es habe eine ganze Zeit gedauert, bis man ihr wahres Wesen erkannt habe. Er kenne viele Menschen, die ganz offen ihre Furcht vor ihr äußerten. Herr Zahn hätte sie gern gesehen, aber Dr. Werner riet ab. Sie hätte dahinter kommen können, wer er war, und daß er mit uns in Verbindung stand. Es war ver- nünftiger, die Begegnung zu vermeiden.
Einige Tage nach seiner Abreise kam Gustel, unsere Älteste, zu uns in die Ferien. Ich sehe sie noch fröhlich lachend auf dem Bahnhof auf mich zulaufen und mich um- armen, glücklich, wieder mit uns vereint zu sein. Es tat mir weh genug, ihrer Freude mit meinem Bericht einen Dämpfer aufzusetzen. Aber ich verhehlte ihr auch nicht, wie froh ich war, sie bei mir zu haben, und wie erleichtert im Gedanken an Peter und Hanna, mit denen sie nun Spazier- gänge und Ausflüge unternehmen konnte. Auch einen Be- such bei Dir konnte ich ihr in Aussicht stellen; sie zeigte sich tapfer und brachte etwas Heiterkeit mit ihren Schul- berichten in Deine düstere, kahle Zelle.
Der 30. Juni 1934 jagte mir mit den Schilderungen der zahlreichen Erschießungen einen neuen tiefen Schrecken ein. Auch Dr. Werner konnte seine Besorgnis nicht ganz verbergen. Daß der Haftentlassungsbefehl immer noch aus- blieb, war ihm unverständlich; anderseits wagte er nicht, zu häufig nachzufragen, um die Herren nicht zu verärgern. Das Warten zermürbte uns. Dich in Deinem Gefängnis und mich in der Freiheit, die ich aber nur sehr begrenzt genoß, denn ich wagte kaum noch fortzugehen außer zur Kanzlei unseres Anwalts, um nur ja zu Hause zu sein, wenn irgend- eine Nachricht käme.—
Doch ich mußte noch bis zum 12. Juli warten. Da wurde ich vom Oberamtsrichter angerufen, ob ich zu ihm ins Be- zirksamtsgebäude kommen könnte. Ich eilte hin, und er er-
öffnete mir, daß Du aus der Haft entlassen werden solltest:
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