die Aufregungen der vergangenen Monate überreizt oder gar hysterisch geworden. Über unsere Wirtin haben wir uns viel unterhalten. Sie imponierte uns durch ihre um­fassende Bildung, ihre Sprachenkenntnis, die sie ständig erweiterte, ihr geschichtliches Wissen und ihre hübsche, geschulte Stimme. Du hast Dich besonders oft mit ihr un­terhalten. Ihre Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit ging uns manchmal fast zu weit. Wir verwunderten uns zuwei­len über das merkwürdige Leben, das sie führte. Sie ging niemals aus. In den drei Monaten, die wir bei ihr wohn­ten, erinnere ich mich nur an zwei Male, da sie das Haus verließ. Sie saß vom Morgen bis in die Nacht in dem schrecklichen kleinen Zimmer zwischen Küche und Trep­penflur und schrieb, las oder unterhielt sich mit dem Haus­meister oder einem von uns. Fast nie sah ich sie eine Ar­beit verrichten. Dabei hatte sie im Erdgeschoß außer ei­nem oder zwei anderen Räumen, die immer verschlossen gehalten wurden, und deren eines ihr Schlafzimmer war, ein wunderschönes Wohnzimmer, das wohl auch in der Saison den Gästen als- und Aufenthaltsraum diente. Aber in dem häßlichen, kleinen Raum, in dem sie saẞ, mußte jeder Mensch, der das Haus und die Küche ver­ließ oder betrat, an ihr vorüber, denn der Vordereingang blieb auch geschlossen, als der Schnee geschmolzen war, was in diesem Jahre schon in den allerersten Märztagen begonnen hatte. Sie überschüttete die Kinder mit kleinen Geschenken, allerdings bat sie auch häufig, Besorgungen für sie zu erledigen, wogegen wir natürlich nichts hatten. Sie ließ es sich auch nicht nehmen, uns zu unseren Ge­burtstagen etwas zu schenken. Es war uns fast zuviel des Guten. Aber sonst konnten wir nichts gegen sie einwenden, wenn ich auch keine rechte Sympathie für sie zu empfin­den vermochte. Sehr bald wandten sich die Gespräche, die Du mit ihr führtest, und denen ich gelegentlich beiwohnte, der politischen Sphäre zu. Sie erzählte, daß sie zu Beginn begeisterte Nationalsozialistin gewesen war, daß sie aber

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