Nach langen, viel zu langen Verhandlungen, unter denen die längft überanfpruchten Nerven der Mitgefangenen zu zerreißen drohen, geht auch dies letzte Kapitel der Haft zu Ende.

Es ift Sonnabend, der 26. Mai 1945, als wir endlich die Pas piere in der Tafche haben, daß wir frei find. Frei!

Ein Frühling von einer Uppigkeit ohnegleichen deckt das gefchlagene, blutende Land, wie ein tröftliches Zeichen da für, daß unter fo viel fchmählichem, drückenden Zufammen bruch Gottes ewige, gütige Ordnung weitergeht, Froft und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Noch ift unfere Welt wie mit Brettern eingezäunt; kaum dringt eine Kunde aus anderen Teilen des Landes her, Ver kehr gibt es nicht. Die Ungewißheit fteigert bei den meisten Kameraden die Nervofität auf den Siedepunkt.

Ich bin ganz ruhig. Die Scheidewand, die die fichtbare Welt von der unfichtbaren trennt, ift ganz dünn geworden. Es ift einer von den feltenen Augenblicken im Leben, da man das Geheimnis des göttlichen Planes hinter den Dingen faft mit der Hand greifen kann.

Eines Tages gefchieht, was ich irgendwann in der Haft wie eine Viſion mit geiftigem Auge fah: ein Auto fährt vor. Wo her kommt in diefer desorganifierten Welt, in der fich nur alliierte Truppentransporte bewegen können, ein Auto? Der Landesbifchof von Hannover hat es gefchickt. Irgend ein wandernder Soldat hat die Kunde, daß ich in Nürnberg am Leben bin, nach der Heimatftadt gebracht. Da mein El ternhaus zerstört ift- ich wußte es nicht-, hat keine dort hin gerichtete Nachricht ihr Ziel erreicht; von der Familie weiß ich nichts, Briefe und Nachrichten, die ich aufs Unge wiffe nach Berlin und Bremen gerichtet habe, find noch ohne Antwort. Aber wie ein plötzlicher Blitz ift diefe Kunde da

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