Der Strom der Zeit zieht in ruhiger, mächtiger Bahn frei und gelöft auf Gott zu. Eigentlich tut er es immer; aber mir find hier in der Stille die Organe zuteil geworden, es deut licher zu erkennen.

Mir ift erlaubt, jenen Streifen Landes am Strande der Zeit zu betreten, auf den fchon ein Schein der anderen Welt fällt. Ich habe nicht gewußt, daß ein Dafein, das noch ganz irdisch und menfchlich ift, fchon fo offen fein kann für die Welt Gottes. Gefegnete Stille. Gefegnete Einfamkeit. Gefegnete Haft. Und nun beginnt die große Reviſion.

Das ift zunächft Schritt für Schritt ein Weg in die Tiefe. Bild um Bild fteigt aus der Vergangenheit auf, längst ver geffene Szenen aus völlig vergeffenen Winkeln. Ich habe nicht gewußt, daß in der Todesnähe die eigene Vergangenheit mit folcher plaftifchen Anfchaulichkeit vor unfer geiftiges Auge treten kann, und ich ahne von ferne, wie es fein wird, wenn am Jüngsten Tage unfer Leben vor den Augen des ewigen Richters liegen wird wie ein aufgefchlagenes Buch. Ich vers ftehe zum erften Male die unheimliche Wirklichkeit des Pfalmwortes:, Unfre unerkannte Sünde ftellft du ins Licht vor deinem Angeficht". Was fteigt da alles aus dem Brunnen der Vergangenheit auf! Längft vergeffene Fehle- wir Mens fchen find Virtuofen der Vergeßlichkeit, wenn es fich um un fere eigenen Schwächen und Verfchuldungen handelt; aber welche Kette dunkler Erinnerungen ergibt das, wenn wir zum erften Male nicht im milden Lichte bürgerlicher Maß ftäbe, fondern im Angefichte der Ewigkeit unfern bisherigen Weg überschauen! Und- lähmender und kläglicher noch- welche Verfäumniffe!..... daß ich in meine Fehden trat mit rafchern Streichen nicht und kühnrer Tat!" Scheinbar ganz nebenfächliche Erinnerungen werden wach. Da ist ein blon der Junge, der an mir als feinem Pfarrer gehangen hat und

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