Die Ghettowachtleute versuchten, ihnen den Gegen­stand mit Gewalt aus den Armen zu reißen.

Die Frauen aber schrien weiter und hielten ihn desto fester, und beim Näherkommen sah man, daß es Urnen waren, die sie im Arm trugen. Als sie vorbeigetrieben wurden, konnte man ihre verzerrten Gesichter mit den vom Weinen dick verschwollenen Augen deutlich er­kennen.

Die Wachtleute hatten jetzt die Frauen gepackt und drängten sie durch das Eingangsfor der Magdeburger Kaserne, dort verschwanden sie in dem Menschenstrom der Hauptstraße.

Frau Sachse kam nachmittags ganz erschöpft in die Färberei. Sie war totenbleich und schrie sogleich: ,, Solche hundsgemeine Teufelei, nicht einmal den Toten gönnt die Bande ihre Ruhe."

Kitty war zu Frau Sachse getreten.

,, Haben Sie das heute morgen mit den Frauen auch miterlebt?"

"

,, Ja, gewiß, ich war doch dabei!"

, Wie ist es wirklich zugegangen?" fragte Kitty.

,, Nun, wir mußten die Urnen vom Wagen herunter­nehmen und durch eine lange Kette von Frauen weiter­geben. Diese Urnen sind aus dem Friedhof Theresien­stadts herausgeholt worden, auf Wagen verladen und in die Nähe von Leitmeritz geschafft, um dort in die Elbe versenkt zu werden. Wir haben sie bei der An­kunft abgeladen und wieder durch eine lange Kette von Frauen einzeln weiterbefördert und auf diese Art zu Tausenden ins Wasser geworfen."

,, Dabei haben sich ganz unbeschreibliche Szenen ab­gespielt. Eine Tochter hielt plötzlich die Urne ihrer ver­storbenen Mutter in der Hand, und umgekehrt faßte eine Frau die Urne ihres vor einem Jahr verstorbenen Mannes an. Sie hatten die Namen auf den Deckeln der Urnen gelesen. Sie erschraken furchtbar und schrien auf vor Grauen. Dann fingen sie plötzlich an zu laufen und hielten dabei die gefaßte Urne fest unter dem Arm.

13 Philipp, Die Todgeweihten

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