Dichtung, von der er behauptete, sie sei deshalb be­sonders zu schätzen, weil sie mit der Antike nicht be­lastet sei. Von ihr erwartete er viel für die innere Be­reicherung der Menschheit. Darum stellte er auch Do­ stojewski über Goethe. In der Ablehnung von Antike und Tradition ging ich mit ihm aber nicht einig, doch hat dieser Gegensatz unsere zahlreichen Unterhaltun­gen über alle möglichen geistigen Probleme nur frucht­barer und für beide Teile genußreich gemacht. Aus den Blockakten kannte ich seine Personalien und wußte, daß er am 12. Oktober sein sechsundsechzigstes Lebensjahr vollendete. Mit Unterstützung von Clemens wollte ich ihn überraschen. Ein junger, künstlerisch veranlagter Russe zeichnete ein Gedenkblatt mit stili­sierten Ornamenten, auf denen ein Orchester von En­geln saß, das Amor von der Höhe aus dirigierte. Mit unendlicher Geduld und Sorgfalt hatte der Russe meine deutschen poetischen Glückwünsche auf das Blatt ge­malt. Alle Freunde setzten ihren Namen unter die Ge­burtstagsadresse. Clemens stiftete einen besonderen Beitrag, indem er aus der Kantine eine neue Schüssel aus Steingut beschaffte, die unser Russe auf der einen Seite mit dem Lorbeerkranz zierte, in dessen Mitte unter den Daten der Geburt und des heutigen Geburts­tages der Name des Gefeierten erschien, während auf der anderen Seite Violinschlüssel und Noten den musi­schen Charakter Bethges andeuteten. Wertvoller als alle Symbolik war es jedoch, daß Clemens die Schüs­sel mit begehrten Erzeugnissen seiner Kochkunst füllte. Auf dem schlichten Holztische prangten Blumen, letzte Boten des Herbstes. Ernst konnte vor Rührung kaum ein Wort hervorbringen. Am Nachmittag durfte er der Arbeit fernbleiben, denn Otto und Clemens deckten das Versäumnis gegenüber dem Vorarbeiter- es gibt

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