kennzeichnend für den geistigen Zustand vieler Deut­ schen , daß sie ihr Bedürfnis nach Gewißheit weniger durch eigenes kritisches Nachdenken als durch Bot­schaften aus dem Bereich des Übersinnlichen zu befrie­digen suchten. Dieser Hang zur Mystik war eine Folge der nationalsozialistischen Verdummungspolitik, die sich in diesem Falle aber gegen ihre eigenen Urheber richtete. Fast alle Prophezeiungen der Wahrsager kleineren und größeren Formats richteten sich gegen das Hitlersystem und sagten seinen Untergang voraus. Die Verbreiter wurden darum als Zersetzer der Volks­stimmung isoliert und in die Konzentrationslager ver­bracht. Ihr Schicksal glich dem der Ernsten Bibelfor­scher. Sie galten als politische Häftlinge, obwohl ihr Tun mit zweckbewußtem politischem Handeln wenig oder nichts zu tun hatte.

Ein Häftling, der zu dieser Kategorie gehörte, war Rudi H. aus Berlin- Charlottenburg , ein kleiner, beweglicher Herr mit lebhaften Augen. Er war im Nachbarflügel beschäftigt und besuchte uns oft tagsüber. Sein hei­teres Wesen, seine unbedingte Nazifeindschaft und die Eifrigkeit, mit der er alle Neuigkeiten im Lager ver­breitete, machten ihn zu einem beliebten Kameraden. Er war Chiromant und Astrologe, doch konnte er sich, da es ihm an einschlägigem Handwerkszeug fehlte, in der letzteren Eigenschaft weniger betätigen. Dagegen hat er oft Proben seiner Handlesekunst gegeben. Dabei gab es manchen heiteren Zwischenfall. Nicht selten traf er das Richtige. Selbst mein skeptischer Freund Bethge fand, daß Rudi manchmal Erstaunliches leiste. Rudi wollte auf Veranlassung eines Generalstabsoffi­ziers verhaftet worden sein, weil er den Zusammen­bruch bei Stalingrad sechs Monate im voraus prophe­zeit habe. Seinen Ruhm hat jedoch die Tatsache be­

191