den Kameraden solche Liebesdienste zu erweisen, da sie verboten waren. Das hätte mich nicht gestört, aber man durfte nichts Schriftliches aus dem Lager heraus­nehmen. Bei der Entlassung wurde alles gründlich durchsucht. Deshalb mußte man alle Adressen und Telefonnummern im Kopfe behalten. Hier zog das Ge­dächtnis eine natürliche Grenze.

Ein anderer dieser Lothringer, ein achtundsechzigjäh­riger Grubenarbeiter, war vollständig arbeitsunfähig. Wie ein kranker Sperling im Vogelkäfig saß er da. Da zeigte sich auch Otto von der menschenfreundlichsten Seite. Er hielt ihn im Block, um zu verhüten, daß er in den berüchtigten Schonungsblock abgeschoben wurde, und deckte ihn vor der Kontrolle. Otto, Clemens und ich selbst versuchten, ihn mit unseren zusätzlichen Nahrungsmitteln langsam wieder aufzupäppeln. Als ich das Lager verließ, lebte er noch, aber ich bezweifle, ob er die Strapazen des ungewohnten Aufenthalts über­standen hat. Einige seiner Kameraden sind bald nach ihrer Einlieferung gestorben.

Mein Leben im Block vollzog sich jetzt in einem be­stimmten Rhythmus. Die bunt zusammengewürfelte Mannschaft bot der Nationalität nach ein Abbild des Lagers im Kleinen. Unter den Insassen befanden sich etwa hundert Reichsdeutsche, davon aber höchstens ein Drittel wirklich politische Häftlinge. Von ihnen saßen manche Kameraden schon acht und zehn Jahre im Lager. Viele junge Russen waren da, die durch gutes Aussehen, Intelligenz und Wiẞbegier auffielen. Wenn ich eine schriftliche Arbeit am Tische machte, so such­ten sie immer, hinter den Zweck und die Absicht mei­nes Tuns zu kommen, ohne dabei aufdringlich zu wer­den. Sie waren heiter, fröhlich und guter Dinge und von großer Dankbarkeit, wenn man ihnen, die nie ganz

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