Dieser allein hätte sie vermutlich nicht an den Galgen gebracht. Sie hatten aber in einem solchen Falle innerhalb kurzer Frist ein Dutzend Delikte am Halse, von denen nach den Grundsätzen der Blutjustiz des Dritten Reiches jedes einzelne hinreichte, den Täter an den Galgen zu bringen. Der entflohene Häftling bedurfte zunächst einer anderen Kleidung. Er brach daher meist in irgend einen Luftschutzraum ein, um sich den notwendigen Anzug aus einem Koffer zu holen. Dann mußte er sich Lebensmittelkarten und Geld verschaffen, was ebenfalls nur unter Verletzung zahlreicher strenger Strafbestimmungen möglich war. Ihr laẞt den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein! Am Tage nach der ersten Hinrichtung, der ich beiwohnen mußte, wurde ein Mann nach dem Appell auf einen Bock geschnallt. Der Apparat war so gebaut, daß er dem Zwecke, dem er zu dienen hatte, in jeder Weise gerecht wurde. Kopf und Hände des Häftlings wurden auf der einen Seite angeschnallt, die Füße auf der anderen. Auf diese Weise kam das Gesäß in eine Lage, die dem Auspeitscher ein bequemes und sicheres Ziel bot. Mit unheimlichem Rhythmus sauste in Abständen von zwei bis drei Sekunden der Stock fünfundzwanzigmal erbarmungslos auf sein Opfer. Gellende, markerschütternde Schreie ertönten bei den ersten fünf bis sechs Hieben, dann ein leises Wimmern und schließlich Totenstille. Ein blutender Klumpen wurde zuletzt in den Block geschleppt. Was hatte der Mann verbrochen? Als am Vortage der Henker seine Arbeit verrichtet hatte, empörte sich der kaum eingelieferte Häftling so, daß er unvorsichtig äußerte, das öffentliche Hängen sei eine Kulturschande; eine Kanaille hatte ihn gehört und verraten. Der Lagerkommandant sprach sofort das Urteil. Ich konnte diese Nacht kein Auge zumachen.
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