KAPITEL 3
Gespräche über die Judenfrage Die Entjudung der Reichshauptstadt
Wir verfielen auf das Gespräch. War hier nicht eine wundervolle Gelegenheit, seinen Zauber zu entwickeln, der in Deutschland so selten geworden war? Draußen, in der vom Nationalsozialismus verpesteten Welt, war ein echtes Gespräch unter zufällig zusammengekommenen Menschen unmöglich geworden. Hier waren wir nun unter uns. Wir kannten uns gegenseitig so gut, daß jede Rücksicht fallen konnte. Zu den vielen Dingen, über die wir im Kampfe mit der bleiernen Langweile des dahinschleichenden Tages debattierten, gehörte die Judenfrage. Daß wir in unserer Zelle die Juden als verfolgte Brüder empfanden, war selbstverständlich. Der Antisemitismus ist immer eine Gefahr für die geistige Gesundheit der Völker. In Deutschland hat man ihn früher bagatellisiert, bewitzelt und totgeglaubt, nachdem selbst der Kaiser aus seiner Freundschaft für bedeutende Juden kein Hehl gemacht hatte, und Walter Rathenau und Albert Einstein neben vielen anderen am geistigen Himmel der Nation als Sterne erster Größe leuchteten, von der Dynastie der Mendelssohn im Reiche der Philosophie und Musik ganz zu schweigen. Die Zeiten eines Jud Süß schienen endgültig vorbei zu sein. Der geschichtliche Hintergrund dieser Erscheinung war von Feuchtwanger und anderen mit klarer Deutlichkeit aufgehellt worden. Aber man irrte sich, der Antisemitismus lebte weiter, wie ein im Gelenk eingekapselter Streptokokkenherd, der eines Tages virulent werden und die seelische Gesundheit der ganzen Nation zugrunde richten sollte. Seine Quartiere
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