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des Bürgertums noch tiefere soziale und demokratische Wirkungen auszulösen. Der politische Katholizismus hielt alle Kräfte- demokratische und konservative durch die unversiegbare Kraft des katholischen Glau­bens in sich gebunden. Seine Stärke war zugleich seine Schwäche, er konnte seine Kräfte nicht eindeutig für eine demokratische Entwicklung einsetzen, weil sonst sein Gebäude mit Zerfall bedroht war. Der Opportu­nismus aus Prinzip war das Lebensgesetz des Zentrums, das es um seiner Selbsterhaltung willen unbedingt be­achten mußte.

Die Masse des Bürgertums, verängstigt durch die Mär­chen von der Bedrohung des Privateigentums durch den Sozialismus, von der Religions- und Vaterlands­feindlichkeit der Sozialdemokratie, im Kern aber stark angefressen von dem materialistischen Geiste, der die deutschen Menschen im Reiche Bismarcks und Wil­helms II. immer stärker erfaßte, warf sich kritiklos in die Arme der politischen Reaktion. Eine kräftige Do­sis Antisemitismus kam hinzu. Rückschauend ergreift uns ein Schauder darüber, in welchem Ausmaße tö­richte Schlagworte die Alltagspolitik im deutschen Rei­che zu jener Zeit beherrschten. Hinter einem Nebel von dummen Phrasen und albernen Lügen betrieb die Reaktion ihre dunklen Geschäfte.

Die Zäsur in der politischen Geschichte des deutschen Bürgertums machte der deutsch - französische Krieg von 1870/71. Bis dahin stand dem liberalen Bürger die Freiheit noch höher als die Einheit. Allmählich verfiel er der Anziehungskraft der nicht unrichtigen These: Ohne Einheit keine Freiheit! Als aber Bismarcks Er­folg auf den Schlachtfeldern nur die kleindeutsche Ein­heit brachte, wurde er in zunehmendem Maße von der Blut- und Eisenpolitik des säkularen junkerlichen Ge­

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